Siegburg – Draußen in der Welt nennen sie sich selbstbewusst „Siegburger“, in ihrer Stadt sind sie Brückberger, Stallberger oder Wolsdorfer. Zwölf Stadtteile hat Siegburg und dazu ein paar Veedel. Sie alle sind „Das Dorf in der Stadt“. Und jedes hat seinen eigenen Charme.
Die Grüne Hölle liegt auf dem Stallberg. In einer Gewerbehalle an der Jägerstraße hat der Verein „Raceway-Park“ seine an den Nürburgring erinnernde Rennstrecke aufgebaut, auf der sich Mini-Boliden im Maßstab 1:32 erbitterte Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Doch auch im Maßstab 1:1 ist der Autoverkehr in diesem Stadtteil allgegenwärtig. Von fern rauscht die Autobahn, vor den Haustüren staut sich bisweilen der Feierabendverkehr und über den Dächern dröhnen die Flugzeuge. Idylle sieht anders aus.
Der Stallberg ist der am meisten vom Fluglärm belastete Stadtteil Siegburgs. Und mehr noch: Jahrzehntelang mussten seine Bewohner die Gerüche der Chemischen Fabrik Kepec mitten im Ort ertragen und schlimmer noch den Gestank der mit Arsen belasteten Deponien der Phrix-Werke. Und doch: Wer suchet, der findet die kleinen Oasen, die Rückzugsorte, die Erholung – auch auf dem Stallberg. Und der findet das dörfliche Leben. Etwa in der letzten von ehemals fünf Gaststätten.
„Zum Alten Stallberg“ steht über der Tür zum Wirtshaus. Zwischen Mietskasernen und katholischer Kirche Mariä Empfängnis hat sich diese letzte Bastion traditioneller Dorfkneipenkultur gehalten – wie auf einer Insel, vom Autoverkehr auf der Zeith- und der Kaldauer Straße umbrandet. Die beiden Verkehrsadern trennen den Stadtteil räumlich und vielleicht auch gesellschaftlich in drei Teile – hier der soziale Wohnungsbau, links und rechts die ursprünglichen Siedlerhäuschen und neuen Eigenheime und das Villenviertel am Grafenkreuz: Trizonesien von Siegburg?
Das will Frank Pritz so nicht gelten lassen. Nicht an der Topografie, an den Bewohnern liege es, dass der Stallberg „dabei ist, einen klassischen Suizid zu begehen“. Das klingt hart, aber Pritz weiß, wovon er spricht. Der 50-Jährige steht im Alten Stallberg am Zappes, seine Frau Martina am Herd der Gaststätte, die Großvater Pritz 1953 eröffnet und Vater Walter bis vor kurzem noch geführt hat.
Sohn Frank ist bestens vernetzt im Ort – als Kneipier, als Ex-Prinz der Kreisstadt, als Löschgruppenführer und als Mitglied der Bürgergemeinschaft. Die bemüht sich redlich, das Gesellschaftsleben im Ort aufrecht zu erhalten. „Aber, was man auch macht, keiner kommt, die Vereinsmitglieder bleiben meist unter sich“, zeigt sich Pritz ein wenig frustriert und fürchtet, das irgendwann auch die Kirmes, die seit über 60 Jahren Tradition hat, den Bach runter geht. Zwar habe sich erst kürzlich das „Kirmes-Geloog“ gegründet, das den Rummel in die Zukunft führen will, doch immer mehr Schausteller bleiben mangels Umsatz aus. Früher hat ihnen Pfarrer Heribert Rupprecht die Nebenkosten aus der Privatschatulle bezahlt, jetzt hat der Stallberg noch nicht einmal einen eigenen Pfarrer.
Auch am Tresen ist das Geschäft ein „harter Kampf“. Wenn seine Frau Bratkartoffeln mit Schnitzel auf der Karte hat, dann kommen die Gäste sogar aus der Stadt, aber wenn im Fernsehen Fußball läuft, bleibt die Kneipe leer, seufzt Pritz, der sich wenigstens auf seine 30 Kegelclubs verlassen kann. Dort liegt das Durchschnittsalter bei 80 Jahren. Doch allmählich kommen auch Jüngere zum Kegeln. Ohnehin ist Pritz als hauptberuflicher Feuerwehrmann auf die Einnahmen seiner Gaststätte nicht angewiesen. Aber er hängt am Alten Stallberg und den Erinnerungsstücken. Im Gesellschaftsraum, wo einst ein Zahnarzt seine Praxis hatte, hängt noch die Fahne des Junggesellenvereins Gemütlichkeit, der sich vor Jahrzehnten aufgelöst hat. Und daneben erinnert die Ehrentafel für die Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg an den Turnerkreis Siegburg-Stallberg.
88 Jahre altes Urgestein
Vor allem bei Karl Kattwinkel, mit seinen 88 Jahren ein Stallberger Urgestein, wecken die Fossilien der Stadtteilgeschichte Kindheits- und Jugenderinnerungen. Die Buchstaben der Ehrentafel hat der Möbelschreiner noch selbst ausgesägt. In einer der Mietskasernen in der Straße „Auf dem Stallberg“ ist Kattwinkel aufgewachsen, bevor sein Vater eines der ersten Siedlerhäuser am Pfahlweiher baute. Den Wald mit seinen verkrüppelten Bäumen mussten sie dafür roden, die Bimssteine haben sie selber „gebacken“ und sogar die Straße provisorisch angelegt. 25 Familien fanden am Pfahlweiher eine Heimat – gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. „Friedenssiedlung“ nannten sie ihr neues Zuhause. Gegenüber, auf der anderen Seite der Kaldauer Straße, gab es jedoch Siedlungen schon vor dem Krieg. „Das ist der alte Stallberg“, erzählt Kattwinkel und erinnert sich an Rivalitäten zwischen den „Ureinwohnern“ und den Neubürgern.
Als in der Theodor-Körner-Straße und der Hermann-Löns-Straße neue Jägerzäune gesetzt wurden, haben die Lausbuben alle Gartentörchen ausgehängt und auf einen Haufen geworfen. Im Obstbungert der Gaststätte Menzel haben sie Äpfel geklaut, in den Brandweihern im nahen Stadtwald sind sie im Sommer geschwommen und im Winter Schlittschuh gelaufen. Und beim Bauer „Ar’sche Karl“ in der Scheune haben sie die „Stallberg-Taufe“ erhalten: 15 Schläge auf den Hintern und die Verpflichtung, mit der Mistgabel mindestens drei Ratten zu erstechen, waren die Voraussetzung dafür, sich „Stallberger Jong“ nennen zu dürfen. Harte Kerle. Karl Kattwinkel ist so einer.
Mit seiner späteren Ehefrau Maria („Mia“), mittlerweile ebenfalls 88 Jahre alt, war er 1948 Maikönigspaar, und er gehörte 1960 zu den Gründungsmitgliedern der Bürgergemeinschaft.
Damals funktionierten Vereinsleben und Nachbarschaft noch. Abends saß man in den Vorgärten und spielte Gitarre und Quetschebüggel. Das Martinsfeuer, das zu dieser Zeit noch am Grafenkreuz abgebrannt wurde, sei so groß gewesen, dass „die Flammen drei Tage loderten“, erzählt Kattwinkel. Von den Traditionen übrig blieb vor allem der Fastelovend. Die Karnevalisten sind nach wie vor überaus aktiv. Auch wenn an die Damen-KG „Laachduve“ nur noch die stolze Ordenssammlung der ehemaligen Präsidentin Mia Kattwinkel erinnert, so hat sich doch mit den „Lustigen Weibern un dat Jeschmölzje“ ein Nachfolgeverein gefunden. Und nach wie vor ist der Veedelszoch das Highlight auf dem Stallberg. Auch daran hat Kattwinkel seinen Anteil. Viele Jahre hat er für die Bürgergemeinschaft den Karnevalswagen gebaut.
Natürlich gab es auch damals Menschen, die im Abseits standen, die in den Baracken hausten, auf deren Grundstück später die Sozialwohnungen gebaut wurden. In einer Baracke lebte eine Familie mit 24 Kindern, in einer anderen das „Heideröschen“, wie die Stallberger „ihre“ Prostituierte nannten. Samstags habe das Heideröschen sämtliche Möbel auf die Straße gestellt, um den Boden zu putzen, schmunzelt Kattwinkel heute noch über die schrullige Dame, die „für unter 50 Mark keinem die Tür aufmachte“, was sein Kumpel nach einem bierseligen Abend einmal ausprobiert habe.
Solche Geschichten schreibt der Stallberg längst nicht mehr. Doch ist nicht nur die dörfliche Idylle ein wenig verloren gegangen. Auch viele Wunden sind verheilt. Wo die Phrix-Deponien zum Himmel stanken, steht heute der TÜV, wo die Schlote der Chemiefabrik qualmten, ein Supermarkt. Aber der Kepec, die Jahrzehnte lang viele Stallberger ernährt hat, trauern nicht wenige nach. „Die gehörte zu unserer Heimat“, sagt Kattwinkel, den selbst der Fluglärm nicht stört: „Damit bin ich groß geworden.“ Froh ist er, dass die einst städtischen Müllkippen zwischen Grafenkreuz und Autobahn verschwunden sind. Dort haben heute die Hubertus-Schützen ihr Schießsportzentrum und (siehe „Drinnen und draußen“) der Siegburger Turnverein seinen Tennisplatz. Aber weder die Sportler noch die Schützen „lassen sich bei mir blicken“, meint der Wirt vom Alten Stallberg.