„Wir hätten uns alles gesagt“ heißt das neue Werk der Autorin, das auch viel mit ihrer Lebensgeschichte zu tun hat.
Literatur am DomJudith Hermann spricht in Altenberg über die Kunst des Verschweigens
Es ist diese schmale Gratwanderung zwischen der Preisgabe von sehr Persönlichem und dem Verschweigen, die Judith Hermann so meisterlich beherrscht. Man glaubt, durch ihre Erzählungen tief in ihr Leben hineinzublicken und erliegt am Ende doch einer Fiktion.
Einen „Taschenspielertrick“ nennt die Autorin ihre Fähigkeit, „abzulenken, mit etwas vermeintlich sehr Intimem, von dem, wie ich wirklich bin“, erklärt sie. Oder anders: „Nichts war so, aber alles ist wahr.“
Ein Kunstgriff hilft, den Blick der Leser zu lenken
Dieser Kunstgriff funktioniert auch bei ihrem jüngsten Buch „Wir hätten uns alles gesagt“, aus dem sie beim Festival „Literatur am Dom“ las. „Ich möchte mich ausdrücken, expressiv sein, aber eigentlich nicht gesehen werden“, verrät die 54-Jährige im Gespräch mit Moderatorin Bettina Böttinger, und man ahnt, welcher Zwiespalt, aber auch welche schöpferische Kraft sich dahinter verbirgt.
Bis zu diesem Punkt, den sie zulässt, wird Judith Hermann aber schon seit Jahren von vielen begeisterten Lesern gesehen, und viele von ihnen nutzten die Gelegenheit, die Autorin im ausverkauften Kräutergarten des historischen Küchenhofes Altenberg einmal hautnah zu erleben. Unter den Gästen, die Prinzessin Sema zu Wittgenstein, Vorsitzende des Fördervereins, begrüßen konnte, war auch die nordrhein-westfälische Ministerin für Kultur und Wissenschaft Ina Brandes, Schirmherrin des Festivals „Literatur am Dom“.
Schon als Debütantin wurde Judith Hermann Erfolg vorausgesagt
Seit der inzwischen verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki der Debütantin 1998 einen großen Erfolg vorausgesagt hatte, wächst Judith Hermanns Fangemeinde ebenso wie die Zahl ihrer literarischen Auszeichnungen. „War diese frühe Anerkennung Druck oder Glück?“, will Bettina Böttinger wissen.
Glück, das sei für sie eher „der Moment danach“, das Gefühl, mit heiler Haut davongekommen zu sein, meint die Schriftstellerin etwas sibyllinisch und auch wenn man schon sieben Bücher veröffentlicht habe, könne man nie sicher sein, noch ein achtes zu schreiben.
Dem Buch sei ein angstbesetzter Prozess vorausgegangen
Dem Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ sei ein angstbesetzter Prozess vorausgegangen, erklärt Judith Hermann. Man hatte ihr die hoch angesehene Poetik-Dozentur an der Goethe-Universität Frankfurt angetragen, sie sollte sich einreihen in eine erlesene Schar von Autoren, deren erste Ingeborg Bachmann war.
„Diese Einladung ist ein Ritterschlag und zugleich abgründig, weil man sie nicht ablehnen kann“, erzählt Hermann. Der Hörsaal, ein Kessel - und in der Manege stehe der Autor. Es fühle sich an, als würde man vor den Studierenden, dem Lesepublikum und Vertretern des sogenannten Literaturbetriebes aus Verlegern, Kritikern und Rezensenten die eigene Arbeit sezieren, sagt sie.
„Die Situation hatte etwas von einem Albtraum“
„Die Situation hatte etwas von einem Albtraum.“ Sie habe Angst gehabt, zu viel preiszugeben, habe es als Mutprobe empfunden und sei glücklich gewesen, als sie es überstanden hatte. Das Glück danach. Erst später sei daraus das vorliegende Buch entstanden, wohl auch, weil Judith Hermann unter anderem „von den Abgründen ihrer Familie spricht“, so Böttinger.
Eine Publikation, die erst nach einem Gespräch mit ihrer Familie entstanden sei, die sich bei aller literarischen Verfremdung in einigen geschilderten Begebenheiten durchaus hätte wiedererkennen können. Denn Judith Hermann erzählt an ihrer Biografie vorbei.
„Möchten Sie angetrunken Ihrem Analytiker begegnen?“
Ihr sei immer klar gewesen, sagte Hermann, dass sie tief in ihre Biografie eintauchen müsse, um zu schreiben. „Möchten Sie angetrunken Ihrem Analytiker begegnen?“, fragt Böttinger in das Publikum und leitete über zum ersten Kapitel des Buches, in dem die Ich-Erzählerin unverhofft ihrem Therapeuten Dr. Dreehüs begegnet und mit ihm in einer Kneipe landet.
Der Moment, als ihr berichtet worden sei, dass die Studierenden während der Vorlesung heimlich den Analytiker und die Kneipe googelten, „war für mich ein kleiner Apfel der Erkenntnis“, sagt Judith Hermann lächelnd. „Auch in diesem Fall bin ich diejenige, die weiß, wie es wirklich gewesen ist“.
Ein Wissensvorsprung, den die Leser nicht aufholen, aber mit eigenen Interpretationen füllen können. Es könnte daher auch ein Rat von Dr. Dreehüs gewesen sein, wenn er jemals Ratschläge gegeben hätte: „Halte ein Buch zwischen Dich und die Welt und Du bist gerettet.“