Der Archäologe und Direktor des Weltkulturerbes Pompeji, spricht von einer versunkenen Welt, die das klassische Bild der Antike verändert hat.
Literatur am DomGabriel Zuchtriegel spricht in Odenthal über den „Zauber des Untergangs“
Er verdankt seinen Arbeitsplatz einer Katastrophe. Die geschah im Herbst des Jahres 79 n. Chr. und löschte innerhalb weniger Stunden die Stadt Pompeji aus. Der Vesuv begrub den Ort unter meterdicken Schichten von Stein und Asche und erstickte jegliches Leben in der Stadt, in der nach Schätzungen der Historiker damals mehr als 20.000 Menschen lebten.
Es sei soviel Unheil in der Welt geschehen, schrieb Goethe in der „Italienischen Reise“ über Pompeji, „aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht“ hätte. Vom „Zauber des Untergangs“, hat dann auch Gabriel Zuchtriegel sein Buch über die antike Stadt in Italien benannt, das er zur Lesung „Literatur am Dom“ mitbrachte.
Weltliteratur im Schatten des Altenberger Doms
Ein Bestseller, der den bezeichnenden Untertitel trägt: „Was Pompeji über uns erzählt.“ Darauf waren viele neugierig: Die Veranstaltung war ausverkauft. „Wir freuen uns, dass die Weltliteratur zu uns hier in den Küchenhof kommt“, sagte Prinzessin Sema zu Sayn-Wittgenstein, Vorsitzende des Fördervereins „Literatur am Dom“ zur Eröffnung des Festivals.
Gabriel Zuchtriegel ist klassischer Archäologe, stammt aus Oberschwaben und ist seit 2021 Direktor des Archäologischen Parks und Weltkulturerbes Pompeji. Am magischen Ort Altenberg spreche man über den magischen Ort Pompeji, meinte der Literaturkritiker Denis Scheck, der die Moderation der Veranstaltung übernommen hatte.
„Pompeji brachte das Bild der klassischen Antike durcheinander“
Im 18. Jahrhundert wurde der verschüttete Ort wiederentdeckt, wurde mit ersten Grabungen begonnen, die bis heute andauern. Derzeit seien etwa Zweidrittel freigelegt, so der Archäologe. „Pompeji brachte das Bild der klassischen Antike durcheinander“, erklärte Zuchtriegel. Der Ort, der an einem einzigen Tag vernichtet wurde, gleiche einer faszinierenden 3D-Aufnahme in einer vor-fotografischen Epoche, eine einzigartige Momentaufnahme.
Das idealisierte Bild des urbanen Lebens zur Zeit der Römer, das sich vor allem aus Zeugnissen der gebildeten Oberschicht speiste, erlebte durch Pompeji einen Realitätsschock: Kleine Läden und Schenken, erbärmliche Sklavenzimmer, unflätige Sprüche an den Wänden „alles aufgeladen mit Erotik“, so Zuchtriegel, zeichneten plötzlich, je tiefer die Wissenschaftler in die verschüttete Stadt vordrangen, ein anderes Leben vom Alltag der Menschen.
Bei der Naturkatastrophe fanden etwa 2.000 Menschen den Tod
„Es war eine völlig fremde Welt“, meinte der Archäologe. „Auch die Dinge, die wir meinen zu kennen, hatten damals oft eine völlig andere Bedeutung.“ So etwa der Begriff der Demokratie. „Es war eine Gesellschaft ohne Buchdruck, viele konnten nicht lesen und schreiben – aber wir denken, die lasen alle Cicero.“
Pompeji ist nicht nur eine antike, versunkene Stadt, sondern auch ein Friedhof: Schätzungsweise 2.000 Menschen fanden durch die Naturkatastrophe den Tod. „Wir wissen aber nicht, wie viele auf der Landstraße, auf der Flucht gestorben sind“, sagte Zuchtriegel. „Ich könnte mir vorstellen, dass sich noch viele Tote außerhalb befinden.“
Gipsabdrücke der Toten zeigen sie im Moment der Katastrophe
Im Inneren der Stadt haben sich die Toten bewahrt. Sie wurden während des Infernos förmlich eingebacken in glühender Asche. Nachdem diese erstarrt und die Leichen verwest waren, blieben Hohlräume zurück. Archäologen gießen diese Hohlräume mit Gips aus und erhalten so erschreckend plastische Abbildungen von Menschen und Tieren im Moment ihres Todes.
„Erhalten wir so eine Vorschau auf unseren eigenen Tod?“, wollte Denis Scheck wissen. „Es springt einen immer wieder an“, gab Zuchtriegel zu. Es berühre, sei manchmal nur schwer zu ertragen. Aber immer noch stoße man bei Grabungen auf Überraschungen.
Immer noch hält die antike Stätte Überraschungen für Archäologen bereit
Wie bei den Zeichnungen von einigen Kindern, die sich wenige Tage vor dem Untergang ein Stück Kohle vom Herd genommen und damit gemalt hätten. Sogenannte Kopffüßler, typisch für frühkindliche Malversuche. „Es ist 2.000 Jahre her und da haben Kinder exakt so mit dem Malen angefangen wie heute“, ist Zuchtriegel verblüfft.
Welchen Ort er im Pompeji des Jahres 75, also vier Jahre vor dem Ende, aufgesucht hätte?, fragte Denis Scheck zum Schluss noch den Direktor des Archäologischen Parks. „Ich würde mich vielleicht gar nicht in die Stadt hineintrauen“, meinte Zuchtriegel nach kurzem Zögern. „Es gab Banditen, es gab Entführungen“ – auch Dinge, die in der idealisierten Vorstellung des Ortes nicht vorkämen, die aber trotzdem Alltag gewesen seien.