„Ich gebe ein Herzstück ab“Leiter des Kinderdorfs Bethanien geht in den Ruhestand
- Seit 2004 leitet Martin Kramm das Kinderdorf Bethanien. Im Interview wirft er einen Blick zurück, spricht aber auch über zukünftige Projekte und wie es für ihn ist, nach so vielen Jahren die Leitung abzugeben.
Bergisch Gladbach – Der Leiter des Kinderdorfs Bethanien, Martin Kramm, über seinen im Mai bevorstehenden Abschied. Der 62-Jährige geht in den Ruhestand.
Herr Kramm, Sie sind nun seit fast 15 Jahren Kinderdorfleiter. Wie kommt man zu so einem Beruf?
Meine ersten Erfahrungen habe ich 1975 in einem Erziehungsheim gemacht, dem Bernardshof in Mayen. Schnell habe ich gemerkt, dass ich etwas bewegen, Kinder und Jugendliche auf ihrem Lebensweg begleiten kann und das eine sehr sinnstiftende Aufgabe ist. So habe ich das Berufsfeld der „stationären Jugendhilfe“ früh entdeckt. Im April 1981 habe ich dann in der Stiftung „Die Gute Hand“ in Kürten-Biesfeld angefangen.
Was hat Sie so speziell an der Heimerziehung gereizt?
Naja, man versucht das zu machen, wofür man Talent hat, und ich war zuvor sehr aktiv in der katholischen Jugendarbeit, mit großen Zeltlagern und vielen Jugendgruppen, die ich geleitet habe. Für mich war früh klar, dass ich irgendwohin wollte, wo ich unmittelbar mit Kindern und Jugendlichen arbeiten kann.
Aber warum stationäre Arbeit?
Der Auslöser war wie gesagt das Vorpraktikum zum Studium. Da habe ich sofort gemerkt, dass mir das liegt. Man sollte seinen Beruf mit der eigenen Person prägen können. In Kürten bin ich, noch unter Heinrich Hölzl, in den Fachbereich der Familienberatung eingestiegen. Das war eine intensive Zeit, weil Familienberatung, die Arbeit mit den Herkunftsfamilien, damals noch relativ neu war.
Wie kam es dann zum Wechsel ins Kinderdorf?
Nach den verschiedenen Stationen in der Guten Hand fühlte ich mich auch der Aufgabe gewachsen, eine Einrichtung zu leiten. Dafür aber musste erst einmal irgendwo eine Vakanz da sein, gleichzeitig wollte ich meiner Frau und meinen Kindern keinen Umzug zumuten, nur um mir diesen Berufswunsch zu erfüllen. Tja, und im Januar 2004 fand ich dann im „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Ausschreibung für diese Stelle.
Als Laie nimmt man an, dass die Arbeit im stationären Bereich schwerer, aufwendiger, zeitintensiver ist als eine ambulante Tätigkeit. Ist das so?
Ich denke ja. Die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen leben für einige Zeit oder sogar für viele Jahre hier und werden natürlich auch rund um die Uhr begleitet und betreut. Wer diesen Beruf ergreift, muss wissen, dass er 24-Stunden-Dienste hat, Wochenenddienste – natürlich immer im Team, aber das ist kein Acht-Stunden-Job. Das gilt auch für mich als Leiter, es ist eine hohe Aufgabendichte und es wird auch Präsenz erwartet.
Wie sehen Sie die Aufgaben des Kinderdorfleiters?
Als ich hier ankam, wünschte sich ein Teil der Mitarbeiterschaft und die hier wohnenden Schwestern eigentlich so eine Art Kinderdorfvater und ich war unsicher, ob ich das so erfüllen kann und will. Letztlich ist es eine Mischung geworden – einerseits ist man Sozialmanager, muss vieles organisieren, regeln und verantworten, zugleich bin ich für die Kinder, Jugendlichen und Mitarbeiter eine zentrale und sehr präsente Figur bei allen Aktivitäten. Üblicherweise bin ich zehn Stunden pro Tag hier, von 9 bis 19 Uhr, dazu kommen besondere Anlässe und Termine.
Zur Person
Martin Kramm, geboren in Dortmund, aufgewachsen in der Kölner Südstadt, Abitur 1974 am altsprachlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, wollte ursprünglich Priester werden.
Eine Dokumentation „Sieben Tage“ aus dem Leben eines Priesters stellte seinen Berufswunsch in Frage und auch, zölibatär zu leben, erschien als zu schwierige Herausforderung. Er befasste sich mit den „religiösen Sozialisten“, las Texte von Ernesto Cardenal, wollte an der Basis arbeiten und fand so zur Sozialarbeit.
Kramm studierte Soziale Arbeit an der katholischen Hochschule in Köln, arbeitete in einer Jugendhilfeeinrichtung in Mayen, später viele Jahre in der Stiftung „Die gute Hand“ in Kürten und leitet seit 2004 das Bethanien Kinder- und Jugenddorf Bergisch Gladbach. Seit 1981 ist er verheiratet mit Rani Kramm, die als Heilpädagogin in der „Guten Hand“ in Kürten tätig ist, und hat vier erwachsene Kinder. (jer)
Haben Sie mal gedacht, „Mensch, das sind aber schon viele Arbeitsstunden, ich habe mir nicht den einfachsten Job ausgesucht?“
Schwierig sind nicht die Arbeitsstunden, daran habe ich mich gewöhnt, und meine Frau auch. Schwierig wird es, wenn man einem Kind nicht gerecht wird, es sich in eine ungute Richtung entwickelt und unsere Lösungsideen nicht greifen; schwierig sind Belastungssituationen, Personal- oder Finanzfragen mit hohem Verantwortungsdruck. Sorgen um die Kinder oder die Mitarbeiter nimmt man schon mal mit nach Hause. Ich bin eigentlich immer Kinderdorfleiter, auch wenn ich frei habe.
Was ist Ihre Lieblingsaufgabe, was Ihre „Strafarbeit“?
Schön, im Sinne von „Ernte einfahren“, sind natürlich Feste und Feiern, da erfährt man viel Wertschätzung und Zuspruch, und ich kann stolz sein auf “unser Kinderdorf“. Sehr schön sind auch die Ehemaligenfeste, wenn die ehemaligen Bewohner kommen und Geschichten von früher erzählen. Natürlich bin ich letztlich auch dafür verantwortlich, dass wir gut wirtschaften. Bei betriebswirtschaftlichen Zahlen und Daten bin ich jedoch sehr auf die gute Zuarbeit meiner Verwaltungsleiterin angewiesen. Und man muss immer wieder prüfen, sind unsere Angebote in der Jugendhilfe noch passend oder müssen wir etwas verändern? Was viele nicht wissen: Wir haben längst einiges verändert und neue Jugendhilfeangebote geschaffen. Heute sind es nicht mehr ausschließlich Kinderdorffamilien, es gibt heilpädagogische Wohn- und Tagesgruppen, eine Außenwohngruppe für jugendliche Mädchen, familiäre Bereitschaftspflege, qualifizierte Schulbegleitung als ambulantes Angebot und anderes mehr.
Erstaunlich, dass Sie so sehr in der pädagogischen Konzeption drin sind. Erwartet man von einem Kinderdorfleiter nicht eher Verwaltungsarbeit?
Der betriebswirtschaftliche Bereich ist natürlich wichtig, aber es geht noch mehr darum, dass sich etwas bewegt in der Einrichtung. Ich habe vier kompetente Erziehungsleiter an meiner Seite, ohne sie und die Verwaltungsleiterin wäre das natürlich nicht zu stemmen. Die Konzepte entwickeln wir immer im Team. Das endgültige „Go“ ist dann Leitungsentscheidung. Ich setze auch gern neue fachliche Impulse. Wir planen derzeit ein Kinderschutzzentrum zu eröffnen, um Kinder zwischen sechs und 12 Jahren aus Krisensituationen schnell in Obhut nehmen zu können, um dann in Ruhe zu schauen, wie kann es weitergehen, kann das Kind zurück in die Familie, welche Hilfen braucht es dafür oder müssen andere Wege eingeschlagen werden?
Wenn Sie zurückblicken auf 38 Jahre in der Jugendhilfe, sieht man Fortschritte, mildern sich Problematiken ab, oder verlagern sich Probleme nur?
Die Erfahrung ist, dass es zwar statistisch weniger Kinder in Deutschland werden, aber dass die Anfragen nach stationärer Betreuung nicht abnehmen. Momentan haben wir einen Trend zu Anfragen für immer jüngere Kinder, dem wir fast nicht nachkommen können. Woher kommt es, dass immer mehr junge Eltern aufgrund eigener Probleme nicht mehr in der Lage sind, adäquat für ihre Kinder zu sorgen? Und das in einer Ausprägung, dass ambulante Hilfen nicht mehr greifen und das Jugendamt über eine stationäre Unterbringung dieser Kinder nachdenken muss. Das ist schon bedrückend.
Also hat der Bedarf im stationären Bereich nicht nachgelassen?
Nein, die Anfragen sind nicht weniger geworden; lediglich im Jugendalter ändert sich etwas, weil man hier niederschwellige Lösungen anbieten kann. Wichtig ist, dass die Anbieter der Jugendhilfe, auch unser Kinderdorf, danach fragen, wie sich Jugendhilfe verändern muss, was Kinder heute brauchen, und flexible und bedarfsgerechte Hilfen und Angebote schaffen.
Wo sehen Sie da das Kinderdorf in der Zukunft?
Wir möchten ein Stück weit ausstrahlen, ein fachlich kompetenter Stützpunkt zu sein für die Arbeit mit Kindern, Jugendliche und ihren Familien in der Region. Auch die hier lebenden Kinder und Jugendlichen sollen möglichst vielfältig integriert sein in Schulen und Vereinen hier in Bergisch Gladbach.
Wann ist denn Ihre offizielle Abschiedsfeier?
Am 24. Mai 2019, und wir hoffen, dass wir einen gleitenden Übergang finden und ich das Kinderdorf mit einem guten Gefühl an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin übergeben kann.
Wie schlimm, denken Sie, wird der Abschied für Sie?
Da versuche ich, Verstand und Herz auseinanderzuhalten und nicht so viel an den Termin zu denken. Ich freue mich aber auch darauf, mehr Zeit für andere Aufgaben zu haben, wie die ehrenamtliche Arbeit für den Verein „Indienhilfe Köln“. Sie sehen, ich stehe ab Sommer schon mal nicht ohne Arbeit da. Aber ich werde das Kinderdorf sicher vermissen. Es ist ein toller Platz zum Arbeiten, strahlt etwas aus. Insofern bin ich mir sicher, dass ich ein Herzstück abgebe. Wenn es gelungen ist, vielen Kindern dieses Kinderdorf zu einem Ort gemacht zu haben, der für ihre Lebensentwicklung wegweisend und wichtig war, haben wir vieles richtig gemacht. Das ist ein schönes Gefühl.