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Europa LeagueVfL spielt in Tatabanya - ein Ort der böse Erinnerungen weckt

Lesezeit 6 Minuten
In seinem Rollstuhl, geschoben von Heiner Brand, führt Jo Deckarm die 78er Weltmeister in der Lanxess-Arena an.

Im vergangenen Jahr feierte Joachim Deckarm seinen 70. Geburtstag mit seinem ehemaligen Teamkollegen der 78er Weltmeister-Mannschaft im Rahmen der Handball-EM in der Kölner Lanxess-Arena.

1979 verunglückte Handballer Joachim Deckarm in Ungarn in einem Europapokalspiel, bis heute kümmern sich Ex-Teamkollegen um ihn.

Tatabanya – in Gummersbach ist der Name der ungarischen Stadt mit bösen Erinnerungen verknüpft. Dort verunglückte am 30. März 1979 VfL-Handballer Joachim Deckarm so schwer, dass sich sein Leben von einer auf die andere Sekunde dramatisch veränderte. Der Gummersbacher und ein ungarischer Gegenspieler stießen so unglücklich mit den Köpfen zusammen, dass der VfL-Spieler mit dem Kopf auf den Betonboden der Halle prallte und einen doppelten Schädelbruch erlitt.

Der schwere Unfall wirkt in einer beispiellosen Unterstützung und in Regeländerungen nach

Es war der schwerste Unfall, den der Handballsport bisher zu verzeichnen hat und der bis heute nachklingt. Sei es durch die beispiellose Unterstützung für Joachim Deckarm durch seine ehemaligen Mannschaftskollegen, Funktionäre und viele andere mehr, aber auch durch Regeländerungen. So stellt heute die Heimmannschaft bei jedem Spiel einen Arzt. Und einen Betonboden wie damals gibt es auch in keiner Halle mehr.

Am heutigen Dienstag tritt in der Europa League zum ersten Mal wieder eine Mannschaft des VfL Gummersbach in Tatabanya an. Für die beiden ehemaligen VfL-Handballer Heiner Brand und Klaus Schlagheck, die unter denen sind, die sich auch nach fast 46 Jahren noch intensiv um Jo Deckarm kümmern, war es ein merkwürdiges Gefühl, als die Auslosung kam.

In der Kabine warteten Heiner Brand und die Teamkollegen auf Nachrichten aus dem Krankenhaus

„Wir sind mit Jo Deckarm vor Jahren noch mal in Tatabanya gewesen“, erzählt Heiner Brand, dass sein ehemaliger Mannschaftskollege in der Halle locker mit der Situation umgegangen sei. Aber er frage sich manchmal, wie Joachim Deckarm sein Leben nach dem Unfall beschreiben würde, ob er es trotz allem als ein glückliches Leben sieht.

In Tatabanya war Brand auch in der Kabine, in der die Mannschaft nach dem Spiel damals auf Informationen aus dem Krankenhaus in Budapest wartete. 131 Tage lag der Handballer im Koma. Sein Schicksal löste eine Hilfswelle ungeahnten Ausmaßes aus. Von Eugen Haas, dem damaligen Gummersbacher Handballchef, und dem Vereinsvorsitzenden Ulrich Strombach wurde ein Fonds gegründet, in dem sich nicht nur namhafte Vertreter aus dem deutschen Sport engagierten, sondern mit Klaus Zöll auch der Trainer des damals größten Konkurrenten TV Großwallstadt. Er ist bis heute Mitglied in der Geschäftsführung des Joachim-Deckarm-Ausschusses.

Die Handballfamilie hat sich zusammengeschlossen
Heiner Brand, ehemaliger Handballer

Die Handballfamilie habe sich zusammengeschlossen, sagt Heiner Brand. Aus der Weltmeistermannschaft von 1978 fuhr jedes Wochenende ein Spieler nach Saarbrücken, wohin Jo Deckarm nach seinem Unfall zurückgekehrt war, und half ihm, sich einzugewöhnen. Bis heute ist es selbstverständlich, dass Deckarm bei   allen Treffer der Mannschaft dabei ist, mit ihm wie im vergangenen Jahr in der Lanxess-Arena im   Rahmen der Europameisterschaft in Köln den 70. Geburtstag feiert.

Klaus Schlagheck war damals in Ungarn nicht dabei, da er sich wie Jochen Feldhoff in die zweite Mannschaft des VfL zurückgezogen hatte. Nach dem Unfall sollte er für Joachim Deckarm in die   Bundesliga-Mannschaft aufrücken. „Als ich in die Kabine kam und dort auf meinem Platz das Trikot mit der Elf liegen sah, war das wie ein Schock, zumal Jo noch im Koma lag“, blickt Klaus Schlagheck zurück. Der VfL hatte vergeblich beim Deutschen Handballbund versucht, die Nummer sperren zu lassen. „Es gab damals nur die Trikotnummern von eins bis zwölf, mehr war nicht erlaubt.“ Da weder Werbung noch Namenszug des Spielers auf dem Trikot standen, wurde es weitergegeben. Trotz der Umstände gab es keine Ausnahmegenehmigung.

„In den Spielen nach dem Unfall habe ich begonnen, nachzudenken, wenn ich in eine Lücke gestoßen bin“, beschreibt Heiner Brand die Unsicherheit in den Zweikämpfen nach der Partie in Tatabanya. Der Unfall habe im Kopf nachgewirkt, was sich nach einer Weile gegeben habe.

Dass sich so viele Gummersbacher bis heute um Jo Deckarm kümmern, sei eine Stärke des VfL und auch ein Vermächtnis von Eugen Haas, erklärt Brand, der mit Klaus Schlagheck und Werner Lettgen die Hilfe koordiniert. Sie sorgen dafür, dass ihr ehemaliger Mannschaftskollege viele soziale Kontakte behalten hat. So hatte man ihn vor Jahren nach Gummersbach geholt, nachdem die Kontakte in Deckarms Heimat Saarbrücken immer weniger wurden. Dass er sich in Gummersbach, wo sein Bruder lebt, wohlfühlt, habe Deckarm schon bei Urlaubsaufenthalten gezeigt. „Gerade über die alten Handballzeiten weiß er noch alles und spricht auch gerne darüber“, erzählt Klaus Schlagheck.

Handball sei ein Mannschaftssport und das zeige sich in solchen Zeiten, so Schlagheck. „Das gilt auch für die Jungs, die heute beim VfL spielen, Mannschaftsgeist ist für den Erfolg absolut nötig“, fügt Heiner Brand hinzu und spannt den Bogen zur aktuellen Mannschaft, die es nach zwölf Jahren wieder geschafft hat, europäisch zu spielen. Zusammenhalt sei wichtig, auch wenn sich durch das Profitum und die aus vielen Nationen zusammengewürfelten Mannschaften einiges verändert habe. Brand: „Wir kamen damals fast alle aus Gummersbach und Umgebung und der Unfall ist ein Ereignis, das uns geprägt hat.“


VfL Gummersbach in der Europa League

In der Multifunktionssporthalle Sportcsarnok Tatabanya treten die Handballer des VfL Gummersbach im zweiten Spiel der Hauptrunde der Europa League am heutigen Dienstag, 18.45 Uhr, beim ungarischen Vertreter MOL Tatabanya KC an. Ein Sieg gegen die noch punktlosen Ungarn wäre von Vorteil, um frühzeitig Platz zwei oder drei zu sichern, der für ein Weiterkommen in der Europa League steht. Der Gruppensieger zieht automatisch ins Viertelfinale ein .

Auf Rang zwei der Tabelle der Gruppe vier steht Fenix Toulouse mit vier Punkten. Die Franzosen hatten, ebenso wie der VfL, die beiden Punkte aus dem Sieg gegen Gummersbach in die Hauptrunde mitgenommen und ihr Spiel gegen Tatabanya mit 35:28 in eigener Halle gewonnen. In Reihen der Ungarn spielt seit Januar 2024 mit Christian Dissinger ein ehemaliger Rückraumspieler des THW Kiel.

„Es ist eine gefährliche Mannschaft“, sagt VfL-Trainer Gudjon Valur Sigurdsson mit Blick auf den kommenden Gegner mit seinem spanischen Trainer Cristian Ugalde Garcia. Tatabanya spiele sehr beweglich und sehr körperlich, führt Sigurdsson weiter aus. Dass Tatabanya für Gummersbach untrennbar mit dem tragischen Unglück von Jo Deckarm verbunden ist, sei allen Spielern seiner Mannschaft bewusst, sagt der VfL-Trainer, zumal Deckarm in der Schwalbe -Arena oft bei den Spielen dabei sei. Damit sei auch klar, welche Bedeutung die Partie für den Verein habe. Bis auf den verletzten Milos Vujovic sind alle VfL-Spieler mit nach Ungarn geflogen.