Einmal im Monat treffen sich die „Lip- und Lymph Ladys“ in Weilerswist, um sich zu unterstützen: im Kampf gegen eine chronische Krankheit und ein Stigma.
SelbsthilfegruppeLipödem: Weilerswisterinnen kämpfen für Anerkennung chronischer Krankheit
Wer nicht weiß, was ein Lip- und Lymphödem ist, oder wie sich die Krankheit anfühlt, den kneift Sandra Fritzler aus Weilerswist bereitwillig in den Oberarm. Sie kneift so fest, dass der Schmerz aus dem Arm in den Hinterkopf zieht. So fest, dass man an nichts anderes mehr denken kann. „Und damit leben wir hier alle jeden Tag, ein Leben lang“, sagt Fritzler.
„Wir“, das sind die „Lip- und Lymph Ladies“ aus dem Kreis Euskirchen und dem Rhein-Erft-Kreis – eine Selbsthilfegruppe für Patienten mit chronischer Erkrankung. 15 Frauen mit Galgenhumor und kräftigen Stimmen sitzen um einen Tisch des AWO-Ortsvereins Weilerswist und tauschen sich aus: Über Beschwerden, die die Krankheit mit sich bringt und über Steine, die Patientinnen in den Weg gelegt werden.
Was ist ein Lipödem? Was ist ein Lymphödem?
Beim Lipödem handelt es sich um eine Fettverteilungsstörung, die hauptsächlich bei Frauen auftritt. Unterhautfettgewebe sammelt sich an verschiedenen Stellen im Körper unter der Haut an und „verklebt“ dort, wie Fritzler es nennt. Besonders häufig betroffen: Beine und Arme. Aber auch an anderen Stellen tritt die Störung auf. Zusätzlich zu einem Lipödem kann sich bei den Patienten auch ein Lymphödem entwickeln. Hierbei kann aufgrund einer Blockade (etwa „verklebtes Fett“) die Lymphflüssigkeit nicht richtig abfließen und sammelt sich somit zusätzlich im Gewebe an.
Das Ergebnis: ein Missverhältnis der Körperproportionen, geschwollene Beine und Arme, die Bewegungen und Berührungen schmerzhaft machen und eine Neigung zu Hämatomen. Das erschwere den Alltag erheblich, sagt Intensivkrankenschwester Nicole Jung. Jede Arbeit, die die Arme fordere, falle ihr schwer, und davon gebe es auf einer Intensivstation nicht wenig.
Verena Wilms konnte kurz vor ihrer Operation nicht einmal mehr die Wäsche aufhängen oder sich die Haare waschen. Isabelle Schouf sagt, dass für sie manchmal sogar normale Autositze aufgrund des Druckschmerzes zur Tortur werden. Fritzler: „Manche von uns suchen sich die Restaurants sogar nach ihren Stühlen aus.“ Während sie das sagt, rutscht die 43-Jährige auf ihrem Holzstuhl herum. Lange stillsitzen kann sie nie.
Trotz der Beeinträchtigungen, die das Lip- und Lymphödem schon immer mit sich gebracht hat, ist es erst seit 2017 offiziell als chronische Erkrankung anerkannt. Jede der Frauen, die sich einmal im Monat in Weilerswist einfinden, haben also lange ein Leben geführt, in dem sie immer wieder gemerkt haben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Aber dass das eine behandelbare Krankheit ist, das wussten sie lange nicht.
Claudia Steinhauer ist heute 48. In ihrer Jugend war sie Balletttänzerin und schlank. Doch als sie ihre Ausbildung begann, nahm sie zu. Ihre Mutter begann sich zu sorgen und setzte die Tochter auf „Brigitte“-Diäten. In einem Monat waren es Kartoffeln, im nächsten Kohl. Doch Steinhauer nahm nicht ab. Ihre Mutter wurde wütend. Warf der Tochter immer wieder vor, heimlich zu essen.
Claudia Steinhauer war verzweifelt, beteuerte: „Nein Mama, ich esse nur mit euch!“ Ihr erhöhtes Gewicht sei auffällig gewesen, in einer Familie, in der alle schlank sind, sagt Steinhauer heute. Als sie zum Arzt ging, weil sie aufgrund ihrer dauerhaft schweren und schmerzenden Beine „eine Arthrose oder so etwas Ähnliches“ vermutete, wiegelte der Arzt Steinhauer ab – mit den gleichen Worten wie zuvor ihre Mutter: Sie müsse nur weniger essen, dann werde alles besser.
Steinhauer aß weniger, aber sie nahm nicht ab. Die Frauen, die um den Tisch herumsitzen, nicken. Jede von ihnen hat eine ähnliche Geschichte. Die 47-jährige Duther Weck hat in der Pubertät begonnen, um die Hüften herum zuzunehmen. „Oh nein, Reiterhosen“, habe man zu ihrer Zeit dann bloß gedacht. Steffi Wersinski (37) habe vor ein paar Jahren noch viel Sport gemacht und wenig gegessen und die Diskrepanz zwischen ihrem gesunden Lebenswandel und ihrer ungesund aussehenden Figur nicht verstanden.
Gemerkt, dass sie mit ihren Beschwerden nicht allein sind, haben die meisten Frauen nicht durch ärztliche Aufklärung und frühzeitige Diagnosen, sondern durch Zufall. Tanja Steinhauer zum Beispiel: Sie ist umgezogen und hat den Arzt gewechselt. Als sie dann wegen einer Erkältung einen ganzen Vormittag im Wartezimmer verbrachte, sah sie dort eine Frau sitzen. „Und ich konnte nichts anderes denken als: Die sieht ja aus wie ich!“ Die Frau war Sandra Fritzler, Gründerin der Selbsthilfegruppe.
Patientinnen: Wir werden nicht rechtzeitig diagnostiziert
„Bis zur ersten Operation war ich eigentlich ein kompletter Pflegefall“, sagt Fritzler. Bei der Operation, von der sie und die anderen Frauen immer wieder sprechen, handelt es sich um die sogenannte Liposuktion, eine Absaugung des kranken Fettes. „Damals konnte ich noch nicht einmal allein aus dem Bett aufstehen.“ Bis heute besitze sie noch einen elektrischen Rollstuhl. „Aber als meine Tochter zwölf wurde und meine Krankheit sich auch bei ihr begann abzuzeichnen, bin ich aufgewacht“, sagt Fritzler. „Da habe ich zu kämpfen begonnen.“ Alle Frauen nicken. Das Verb „kämpfen“ benutzt hier jede.
Fritzler war damals klar, dass dieser Kampf an zwei Fronten geführt werden muss. Zum einen gegen ihre eigene Erkrankung, zum anderen für Anerkennung und Aufklärung. Dafür, dass junge Frauen in den Praxen eine frühzeitige Diagnose und eine entsprechende Behandlung bekommen. Dafür, dass das Lip- und Lymphödem bekannter wird. Und Patientinnen endlich als das wahrgenommen würden, was sie seien: Kranke Frauen und keine „fetten, faulen Fresssäcke“.
Deswegen meldete sich Fritzler beim Fernsehen, ließ sich in ihren schwersten Stunden vor- und nach ihrer Liposuktion von der Kamera begleiten, begann zu bloggen und auf allen Social-Media-Kanälen auf das Thema aufmerksam zu machen.
Daran arbeitet Fritzler bis heute. Denn statt Hilfe zu erhalten, würden Betroffene in Arztpraxen immer noch diskriminiert: Während Tanja Steinhauer etwa von ihrer Gynäkologin behandelt wurde, habe diese gesagt: „Sie müssen mal abends die Bierchen und die Schnitzelchen weglassen.“ Steinhauer ist Vegetarierin und trinkt keinen Alkohol. Ein anderes Mal sollte sie bei einem anderen Arzt am Knie geröntgt werden. „Wo ist denn das Knie“, habe die Assistentin da nur gefragt. „Und ich sollte besser zum Pferdearzt gehen“, habe eine andere Patientin gerufen. Steinhauer: „Das alles kann man an manchen Tagen runterschlucken, an anderen will man nur noch heulen.“
Dabei, das findet Steffi Wersinski, seien es gerade die Frauenärzte, die frühzeitig helfen könnten. Schließlich liefen dort alle jungen Frauen früher oder später auf. Und gerade die starken Hormonveränderungen, die in der Pubertät auftreten, seien oft Auslöser für die Krankheit. Hormonveränderungen generell, ergänzt Fritzler: Pubertät, Schwangerschaft, Menopause. Die Frauen nicken. Dominique Polenda hat aus Angst davor lange mit ihrem Wunsch, ein Kind zu bekommen gehadert. „Aber am Ende war der Wunsch einfach größer.“ Und tatsächlich verschlimmerte die Schwangerschaft das Lipödem der glücklichen Mutter.
So war es auch bei der 32-jährigen Defne Sammel. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes sei sie regelrecht „explodiert“, sagt sie. Durch eine operative Magenverkleinerung nahm Sammel etwas mehr als 60 Kilogramm ab. Sie versprach sich davon eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz und weniger Schmerzen bei der Bewegung. Und tatsächlich änderte sich der Umgang.
Man habe ihr auf der Straße Platz gemacht, sie sogar gegrüßt. „Ich wurde plötzlich nicht mehr wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt“, sagt sie. Doch die Schmerzen waren auch nach der extremen Gewichtsabnahme noch da – sogar noch stechender als zuvor. Der von Ärzten oft gegebene Ratschlag, man müsse bloß abnehmen, dann verschwänden auch die Schmerzen, habe sich also in ihrem Fall nicht bestätigt.
Eine Leitlinie rät zu konservativen Methoden, zur Operation eher selten
Anfang des Jahres hat die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie eine Leitlinie herausgegeben, die beschreibt, wie ein Lipödem zu behandeln sei. Nämlich hauptsächlich durch konservative Methoden: regelmäßige Lymphdrainagen und Kompressionsbekleidung.
Die Liposuktion bei einem Lipödem wird als Kassenleistung nur dann durchgeführt, wenn die Patientin sich in Stadium drei der Krankheit befindet, einen BMI von 35 hat und ärztlich festgestellt wurde, dass sich Beschwerden trotz konservativer Therapie nicht lindern lassen. Dieser Beschluss ist befristet bis zum 31. Dezember 2024.
Von den 15 Frauen der Weilerswister Selbsthilfegruppe kommt nur eine für die Operation nach dieser Übergangsregelung infrage. Deswegen haben einige von ihnen – die, die sich es leisten konnten – die Liposuktion privat finanziert. 12.000 Euro koste diese etwa in einer Klinik in Düsseldorf, erzählt Nicole Gesser, die neu in der Gruppe ist. Tanja Steinhauer hatte auch schon Kontakt zu Ärzten, die behauptet hätten, sie könnten sie mit einer einzigen OP heilen. Kostenpunkt: 20.000 Euro.
„Das ist absolut unseriös“, sagt Sandra Fritzler, die inzwischen schon sechs Operationen aus eigener Tasche gezahlt hat. Mit einer Operation sei es leider nicht getan, so sehr viele Frauen sich das auch wünschten. Die Krankheit sei nicht vollständig zu heilen, nur ihre Symptome seien zu bekämpfen. Leider gebe es in der Branche aber schwarze Schafe, die ein Geschäft aus der Hoffnung der Frauen machten. Oder Ärzte, die zu viel oder zu wenig Fett absaugten und somit für Folgeprobleme sorgten. Dann sprechen die Frauen über ihre Erfahrungen mit diversen Operateuren. Besonders von einem raten sie ab. Sie nennen ihn nur „Voldemort“.
Und auch bei der konservativen Behandlung gibt es noch Uneinheitlichkeit und Probleme. „Um diese blöden Kompressionsstrümpfe müssen wir auch kämpfen“, sagt Steinhauer. Laut Regelung ihrer Krankenkasse ständen ihr pro Jahr zwei Paar zu. „Ich trage die jeden Tag von morgens bis abends, möchte sie auch gern manchmal waschen und merke, dass sie schon nach einem halben Jahr völlig abgewetzt sind.“
Wenn die Frauen sich etwas wünschen dürften, dann wären das drei Dinge, da sind sie sich schnell einig. Erstens: Eine adäquate Krankenversorgung. Zweitens: Dass mehrgewichtige Menschen nicht mehr stigmatisiert werden – vor allem nicht von Ärzten. Und drittens: „Dass wir uns endlich nicht mehr erklären müssen“, sagt Sandra Fritzler.