Medikamente werden knappIm Kreis Euskirchen sind immer mehr Präparate nicht lieferbar
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Immer häufiger sind Medikamente im Kreis Euskirchen nicht lieferbar, teilweise sogar monatelang.
Ärzte, Patienten und Apotheker gehen auf die Barrikaden, weil auch wichtige Präparate nicht verfügbar sind.
Das sagen sie zur Medikamentenknappheit und diese Folgen haben Lieferengpässe für Bürger.
Kreis Euskirchen – „Haben wir nicht mehr“, „ist zurzeit nicht lieferbar“ – solche Sätze sind für Kunden in Apotheken im Kreis längst Standard und sorgen für viel Frust bei allen Beteiligten. Wegen Liefer- und Versorgungsengpässen sind Medikamente knapp – teilweise monatelang.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte listet etwa 260 Medikamente auf, die nicht lieferbar sind – dazu gehört der Blutdrucksenker Valsartan, aber auch Antidepressiva, Schilddrüsen-Medikamente sowie das Blutkrebsmittel Cytarabin und sogar Allerweltsmittel wie Ibuprofen. Wer die Meldungen des Instituts liest, könnte am Gesundheitssystem zweifeln. So ist für Parkinson-Patienten ein bestimmtes Präparat erst im Juni 2021 wieder verfügbar.
Die Gründe für die Medikamentenknappheit
Neben den Rabattverträgen der Krankenkassen mit Medikamentenherstellern gibt es weitere Ursachen für die Engpässe: Pharmaunternehmen haben die Produktionsstätten nach China und Indien verlagert. Das Risiko für Medikamentenknappheit steigt, wenn nur ein oder zwei Produzenten den gesamten Weltmarkt beliefern. Zudem gebe es gerade in Europa sehr hohe Standards: Die Produktion und Auslieferung von Medikamenten werde angehalten, wenn es den kleinsten Verdacht auf Verunreinigungen gebe, sagt ein Sprecher des Apothekerverbandes.
Herstellerverbände kritisieren zudem die Preispolitik – in Deutschland seien Generika, also Medikamente ohne Patentschutz, zu billig und würden deswegen eher in andere Länder geliefert. Ein weiterer Grund sei, dass die Menschen älter werden und deshalb länger und öfter auf Medikamente angewiesen sind.
Auch das Coronavirus, das in China ausgebrochen ist, sei ein Grund, sagt ein Sprecher des Apothekerverbandes. Da die Menschen dort derzeit nur eingeschränkt ihrer Arbeit nachgehen könnten, stocke die Medikamenten- und Wirkstoffproduktion. Unübersehbar seien auch die Folgen des Brexits. Die Zulassungsbehörde für Medikamente sei zwar mittlerweile von London nach Amsterdam umgezogen, doch der Zulassungsstatus vieler Medikamente sei seit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) unklar, so der Apothekerverband Nordrhein.
Das sagen die Apotheker im Kreis Euskirchen
91,2 Prozent der selbstständigen Apotheker geben laut Verband an, dass die Lieferengpässe zu den größten Ärgernissen im Berufsalltag gehören. Vor vier Jahren waren es 35 Prozent. Die Zahl der nicht verfügbaren Rabatt-Arzneimittel hat sich laut Apothekerverband auf 9,3 Millionen Verpackungen verdoppelt.
Dr. Ulrich Bauer leitet die Südstadt-Apotheke am Euskirchener Marien-Hospital. „Das im Jahr 2020 keine Medikamente da sind, ist ernüchternd und eine große Herausforderung“, sagt er. „Die Lieferengpässe dürfen nicht auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden.“ Die Gesundheitsversorgung müsse im Vordergrund stehen, nicht der Kommerz. „Es müssen Anreize geschaffen werden, damit die Medikamente wieder in Europa produziert werden“, so Bauer.
Eine Sichtweise, die Apotheker Christoph Herr teilt. Auch in der Gemünder Ventalis-Apotheke spürt man die Folgen der Engpässe deutlich. Dass Patienten dadurch zu „Firmenhoppern“ werden, ärgert ihn: „Das ist gerade für die Älteren eine große Umgewöhnung.“
Waren es vor einigen Jahren noch rund zehn Präparate, die nicht zu bekommen waren, seien es heute mehr als 100, klagt Herr. Welche Auswirkungen es haben könnte, wenn in China in Folge des Coronavirus Werke geschlossen werden, die Rohstoffe für die Medikamenten-Produktion liefern, will er sich gar nicht ausmalen.
Die fehlenden Artikel in den Apotheken seien nicht nur ärgerlich für die Patienten, die häufig kein Verständnis für den Mangel hätten. Auch beim Apotheker selber ist durch den Missstand der Unmut groß. „Wenn man wegen jedem Medikament telefonieren muss, ob es verfügbar ist – das ist nicht der Job, den ich machen will“, sagt Herr. Dabei gehe ein Großteil seiner Zeit drauf. Zeit, die Herr lieber „am Kunden“ verbringen will, anstatt die Lieferanten abzuklappern.
Die Hausärzte müssen Ersatzpräparate verschreiben
Gerd Holstege ist Allgemeinmediziner in Flamersheim. „Ich führe täglich Gespräche mit Apothekern über Medikamente und Rezepte“, sagt er. Der Ärger über nicht verfügbare Medikamente sei deutlich größer geworden. Das Unverständnis der Patienten sei groß, so der Flamersheimer. Bei Impfungen gegen Gürtelrose habe es jüngst eine Empfehlung gegeben, nur noch diejenigen zu impfen, die von der zweiphasigen die erste Spritze bereits erhalten hätten. „Der Impfstoff reicht sonst derzeit nicht aus“, sagt Holstege.
Dei Grippeschutzimpfung sei kein Problem, weil der Impfstoff mit einem Jahr Vorlauf bestellt werde. Fast täglich kommen laut Holstege Patienten ein zweites Mal in die Praxis, um sich ein Ersatzpräparat aufschreiben zu lassen, weil das ursprüngliche nicht lieferbar oder das Medikament mit einer entsprechenden Dosierung nicht zu bekommen ist.
Die Patienten warten teilweise monatelang auf Medikamente
Die Mechernicherin Rita Breuer wartet nach eigenen Angaben seit Monaten aus eine Hepatitis-B-Impfung.
Maren Kurth hat vor vier Wochen versucht in Euskirchen ein Blutdruckmedikament zu bekommen – erfolglos. Normalerweise koste das 25 Euro, so Kurth. Lieferbar sei aber nur ein Alternativmedikament gewesen. Das sollte knapp das dreifache kosten. „Zum Glück hatten wir noch ein paar Tabletten zu Hause.“
Silke Bierfert-Kautz nimmt seit fast 20 Jahren ein Schildrüsenhormon. „Das Problem bei dem Hormon ist, dass ich es nicht einfach wechseln kann – zumindest nicht in meiner Dosierung“, sagt sie. Das Hormon sei immer mal wieder nicht lieferbar. „Ich habe nette Apotheker, die sich echt um mich kümmern“, sagt Bierfert-Kautz.
Präsident der Ärztekammer: „Produktionsstandorte gehören in die EU“
„Wenn versorgungsrelevante Arzneimittel in der Apotheke nicht mehr zu haben sind, weicht man zwangsläufig auf andere Präparate mit identischem Wirkstoff aus, die sich aber von ihren pharmazeutischen Eigenschaften wie Tablettengröße, Teilbarkeit oder Farbe erheblich unterscheiden können“, sagt Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein. „Langfristig gehören Produktionsstandorte wieder in die EU.“
Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein sagt: „Wir können bestätigen, dass der Mangel an einzelnen Arzneimitteln in den Praxen zunehmend spürbar ist.“
Seniorenheim konnte größere Probleme vermeiden
Im Evangelischen Alten- und Pflegeheim Gemünd (EVA) konnten größere Probleme trotz Lieferengpässen bisher vermieden werden, berichtet Geschäftsführer Malte Duisberg: „Die Apotheken liefern uns die Medikamente verblistert mit Foto, Name und Dosierung für jeden Patienten.“
Schwierig werde es, wenn etwa statt Tabletten als Alternative plötzlich ein Saft verabreicht werden müsse, um die gleiche Medikamentierung zu erreichen. „Die Erklärung und Beruhigung gehört mittlerweile zum Pflegeberuf dazu“, räumt er ein. Da die Apotheken zudem Verträge mit den Krankenkassen hätten, seien wechselnde Präparate an der Tagesordnung. Duisberg: „Ohne Medikamente standen wir aber noch nicht da.“
Die Krankenhäuser sehen keinen Versorgungsengpass
Der Medikamentenmangel wirke sich auch in der Anästhesie aus, sagt die Ärztekammer. Im Euskirchener Marien-Hospital gebe es das Problem nicht.
„Wir können bei der Intensivmedizin und der Anästhesie auf die Mittel zurückgreifen, die wir benötigen“, versichert Chefarzt Professor Heinz Michael Loick. „Es gibt nicht immer die gewünschten Medikamente, aber immer den gewünschten Wirkstoff“, sagt auch Manfred Herrman, Geschäftsführer des Kreiskrankenhauses Mechernich. Einen Versorgungsengpass gebe es nicht.
Das sagt die Krankenkasse
Deutschland habe einen Anteil von vier Prozent am weltweiten Arzneimittelumsatz, sagt eine Sprecherin der AOK Rheinland/Hamburg. Von den vier Prozent werde ein kleiner Teil über Rabattverträge gesteuert. „Von allen Rabattarzneimitteln der AOK sind 0,3 Prozent mit Lieferengpass gemeldet“, versichert sie. Rabattverträge sparen der Solidargemeinschaft jährlich Ausgaben in Höhe von vier Milliarden Euro. Hauptverursacher für Lieferengpässe seien technische Probleme, Rohstoffengpässe, ein Mehrbedarf sowie Qualitätsdefizite.
Weitere Hintergründe: „Teilweise gibt es bei den Psychopharmaka keine Ersatzpräparate“
Gerade bei Menschen, die auf psychiatrische Hilfe durch Medikamente angewiesen seien, sorgen Lieferengpässe oder der Wechsel zu Medikamenten anderer Anbieter häufig für Irritationen. Diese Patienten sind nach Einschätzung Natascha Nehrig-Dalhoff, Assistentin der Betriebsleitung der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Marienborn gGmbH, sehr sensibel und reagieren häufig mit Verunsicherung, wenn ihre Tabletten auf einmal eine andere Form oder Farbe hätten. Dies könne sogar dazu führen, dass die Patienten die Medikamente nicht mehr einnähmen oder falsch dosieren würden.
Deshalb werden laut einer Krankenschwester Medikamentenumstellung im Idealfall nur bei stationären Behandlungen vorgenommen, um die Patienten besser beaufsichtigen zu können. Von Lieferengpässen sei auch die Fachklinik Marienborn betroffen, zumal es bei der Zusammensetzung der Präparate einiges zu beachten gebe.
Das Stichwort in diesem Zusammenhang sei „Bioverfügbarkeit“. Das ist laut Nehrig-Dalhoff die pharmakologische Messgröße für den Anteil eines Wirkstoffes im Blut. Die könne um 80 bis 125 Prozent vom Originalpräparat abweichen, so die Expertin. Um bei Lieferengpässe bei Medikamenten gewappnet zu sein, habe man eine Psychopharmaka-Hausliste erarbeitet, so Nehrig-Dalhof. Seit etwa zwölf Monaten müsse diese häufig angepasst werden.
„Teilweise gibt es bei den Psychopharmaka keine Ersatzpräparate mit gleichem oder vergleichbarem Wirkstoff. Dann müsse das Präparat aus einer Auslandsapotheke besorgt werden“, sagt Nehrig-Dalhoff. (tom)