„Wirkt wie Heroin“Immer mehr Kinder zocken Fortnite – Experten warnen vor Suchtgefahr
- Eigentlich ist alles perfekt im Leben von Peter Keller und Sohn – wenn da nicht die ewige Diskussion um Fortnite wäre. „Jeden Tag gibt es bei uns Zoff wegen der Zockerei.“
- Laut unabhängiger Experten sollte das Spiel des Herstellers Epic Games frühestens ab 14 Jahren erlaubt sein, besser ab 16.
- Geradezu fatal wäre, wenn es stimmt, was ein britischer Verhaltensexperte behauptet: „Fortnite wirkt wie Heroin“.
Eifelland – „Alle anderen dürfen aber!“ Diesen Satz pfeffern Kinder ihren Eltern vermutlich schon seit Anbeginn der Menschheit um die Ohren – jedes Mal, wenn sie ihren Willen nicht bekommen. Besonders hoch ist der Druck auf Eltern heute in Sachen Medienkonsum.
Wer möchte schon, dass sein Kind zum Außenseiter wird, weil es das angesagte Computerspiel noch nie gezockt hat und deshalb nicht mitreden kann? Dabei wäre gerade bei diesem Thema eine klare Haltung wünschenswert.
„Jeden Tag gibt es Zoff wegen der Zockerei“
Peter Keller (Namen geändert) ist geschieden. Seit der Trennung von seiner Frau lebt Söhnchen Felix (9) bei ihm, womit alle Beteiligten zufrieden sind. Eigentlich ist also alles perfekt im Leben von Vater und Sohn – wenn da nicht die ewige Diskussion um Fortnite wäre. „Jeden Tag gibt es bei uns Zoff wegen der Zockerei“, klagt Keller, der den Eindruck hat, dass sein Sohn langsam kein anderes Thema mehr kennt.
Kurz nach seiner Scheidung ist der 47-Jährige extrem unsicher, was das seelische Gleichgewicht des Neunjährigen anbelangt. Der besorgte Vater will seinen Sohn unbedingt glücklich sehen – und nicht heulend vor Wut, wie es in letzter Zeit häufig vorkommt.
Immer dann, wenn Keller durchgreift und die Spielekonsole ausschaltet, weil die vereinbarte Stunde mal wieder längst abgelaufen ist. Felix’ Reaktion darauf schildert der Vater mit Kopfschütteln und tiefen Sorgenfalten auf der Stirn: „Der Kleine rastet dann richtig aus, schreit, heult und tritt um sich. Das ist doch nicht mehr normal, oder?“
Kinder verbringen immer mehr Zeit vorm Computer
Sonja Zingsheim kann das nur bestätigen. Als Teamkoordinatorin des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Gesundheitsamtes Euskirchen kennt sie die Alarmsignale genau: „Wenn Aggressionen auftreten, sobald nicht mehr gespielt werden darf, ist das gesunde Maß eindeutig überschritten.“ Dass viele Kinder heute mehr Zeit mit Medienkonsum verbringen, als gesund für sie ist, habe das Gesundheitsamt bei den Schuleingangs-Untersuchungen in den vergangenen vier Jahren eindeutig festgestellt. Zwei Stunden und mehr würden rund 20 Prozent der Vorschüler im Kreis täglich mit Konsole, Tablet, Handy und Co. verbringen – Tendenz steigend.
Peter Keller hat bei Felix noch weitere Alarmsignale beobachtet: „Wenn am nächsten Tag ein Fortnite-Update bevorsteht, im Netz also neue Spiele freigeschaltet werden, kann der Junge vor Aufregung kaum einschlafen. Einmal ist Felix vor so einem Update mitten in der Nacht aufgeschreckt und hatte minutenlang Herzrasen.“ Er sei einfach so furchtbar aufgeregt, habe ihm der Kleine damals gestanden, weil er seinen Punktestand unbedingt verbessern müsse und solche Angst habe, im nächsten Level eliminiert zu werden.
„Fortnite wirkt wie Heroin“
Kein Wunder, dass der Neunjährige Stress hat. Laut unabhängiger Experten sollte das Spiel des Herstellers Epic Games frühestens ab 14 Jahren erlaubt sein, besser ab 16. Da Online-Spiele jedoch keiner offiziellen Kennzeichnungspflicht in Bezug auf ein Mindestalter unterliegen, wähnen Eltern sich oft in Sicherheit und nehmen an, dass das Spiel, ähnlich wie bei Kinofilmen ohne Angabe, für Kinder ab sechs Jahren geeignet sei.
Das Spiel
In Fortnite Battle Royale spielen Teams aus ein bis vier Spielern gegeneinander. 100 Spieler befinden sich auf einer Insel. Wer überlebt, gewinnt. Damit die Beteiligten sich nicht einfach verstecken und ausharren können, bis nur noch wenige Gegner übrig sind, gibt es eine sichere Zone, die sich nach und nach verkleinert. Wer außerhalb bleibt, verliert Lebenspunkte oder stirbt.
Die Überlebenden werden zusammengetrieben und in die Konfrontation geschickt. Durch den Kauf von V-Bucks können die Spieler ihre Ausrüstung verbessern oder ihr Aussehen ändern. 1000 V-Bucks kosten etwa zehn Euro. An den In-App-Käufen verdient das Unternehmen Epic Games nach eigenen Angaben mehrere Hundert Millionen US-Dollar pro Monat. Das Spiel selbst ist kostenlos für PC, Xbox One, Playstation 4 und die Smartphone-Systeme IOS und Android verfügbar.
Geradezu fatal wäre, wenn es stimmt, was ein britischer Verhaltensexperte behauptet: „Fortnite wirkt wie Heroin“. Michael Jacobus bietet sogar Camps für Kinder mit Videospiel-Sucht an. Die Hälfte der jungen Teilnehmer dort ist angeblich süchtig nach dem derzeit beliebtesten Online-Spiel der Welt. Wen wundert es da, dass die Firma Epic Games allein im Mai 2018 durch den Verkauf von virtuellem Zubehör mehr als 250 Millionen US-Dollar eingenommen hat. Fortnite ist eben ein Taschengeld-Fresser.
Moritz (10) aus Mechernich hat auch schon investiert. Wie viel? „Etwa 50 Euro“, gibt der Grundschüler unumwunden zu. „Alles für V-Bucks, das ist die virtuelle Währung, mit der man coole Outfits und eine bessere Ausrüstung bekommt.“ Bei der Frage, was Grundschüler an dem Shooter-Spiel so fasziniert, leuchten bei den meisten Jungs im dritten und vierten Schuljahr sofort die Augen auf. „Da gibt es so coole Verstecke zu entdecken“, schwärmt Till. „Da kann man mit anderen zusammen ein Team bilden“, sagt Philipp. Freund Eric nickt: „Wenn ich gezockt habe, dann rede ich am nächsten Morgen in der Schule mit den anderen über die krassesten Aktionen.“
Für die Mutter von Till ist das ein wichtiger Punkt. „Es geht viel ums Mitreden“, glaubt sie. Brutal finde sie das Shooter-Spiel nicht. Zumal man kein Blut sehe und die Tänze und Lieder zu Fortnite witzig wirkten. Was alle machen, kann also nicht gefährlich sein? Der amerikanische Familientherapeut Dr. Leonard Sax sieht das anders. Auf der Website der renommierten Fachzeitschrift „Psychology Today“ (Psychologie heute) warnt er eindringlich vor Fortnite, da es „das Töten von Menschen zum Ziel“ habe. Und genauso ist es, mögen fröhliche Lieder und ulkige Tanzbewegungen noch so sehr davon ablenken. Im Battle-Royale-Modus muss man sich gegen 99 andere durchsetzen. Der letzte Überlebende hat gewonnen. Das bedeutet nun mal Stress – mit oder ohne Blutspritzer.
Vater setzt auf schleichenden Entzug
Peter Keller setzt bei Söhnchen Felix auf einen schleichenden Entzug. Dazu habe ihm auch der Kinderarzt geraten. „Wir werden die Spielzeiten immer weiter runterfahren und dafür öfter etwas zusammen unternehmen. Schwimmen, Karten spielen, eine Radtour machen oder einfach nur raus gehen.“ Hart durchgreifen will der Vater nicht – davor hat er Angst: „Ich fürchte, dass Felix zum Außenseiter wird, wenn ich ihm Fortnite ganz verbiete. Bei seinen Freunden könnte er dann ja nicht mehr mitreden.“
Diskrete Hilfe
Rund um das Thema Konsolenspiele bietet die Suchtberatungsstelle der Caritas Eltern Rat und Hilfe an. Ein kostenfreies und anonymes Beratungsgespräch ist montags ab 14 Uhr in der Euskirchener Caritas-Außenstelle, Kapellenstraße 14, möglich.
Erreichbar sind die Caritas-Mitarbeiter Thomas Stihl und Katrin Schröder, die wie Ärzte der Schweigepflicht unterliegen, unter Tel. 0 22 51/ 65 03 50. Weitere Informationen gibt es per E-Mail (suchtberatung@caritas-eu.de).
„Die Sorge haben viele Eltern“, weiß Maria Cloot-Schmich, Leiterin der Katholischen Grundschule Kommern. Dass im Musikunterricht immer öfter Fortnite-Melodien angestimmt und in der Sportstunde Fortnite-Tanzbewegungen vorgeführt werden, ist ihr natürlich aufgefallen. Dass ein Schüler aber gleich zum Außenseiter-Dasein verdammt ist, wenn er sich damit nicht auskennt? Cloot-Schmich glaubt das nicht. „Auf dem Schulhof gibt es so viele interessante Themen. Kicken, Verstecken und Fangen spielen sind längst nicht out. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass Kinder, wenn sie die Wahl haben, ein echtes Abenteuer immer dem virtuellen vorziehen.“
Darum möchte die Pädagogin auch allen Eltern Mut machen, zu ihrer Verantwortung zu stehen: „Eltern sollten sich ruhig trauen, eine Haltung zu haben. Ein Online-Spiel, das ab 16 Jahren empfohlen wird, kann man einem Neunjährigen nur verbieten. Da gibt es nichts.“ Eine mögliche Lösung zur Frust-Vermeidung hat Cloot-Schmich auch gleich parat. „Alle Eltern im Freundeskreis könnten sich zusammenschließen und solche Spiele gemeinschaftlich verbieten.“ Das beliebteste Kinder-Argument der Welt wäre damit jedenfalls entkräftet.
Das könnte Sie auch interessieren:
Fünf Fragen übers Zocken an Sonja Zingsheim vom Sozialpsychiatrischen Dienst
Steht die Konsole im Wohnzimmer, gibt es Ärger um die Spielzeiten. Um das zu vermeiden, helfen klare Regeln. Die weichen im Alltag jedoch schnell wieder auf, oder?
Wenn nicht kontrolliert wird, was und wie lange ein Kind an der Playstation zockt, ist seine Gesundheit in ernsthafter Gefahr.
Das Online- und Konsolenspiel Fortnite ist bei Grundschülern gerade extrem angesagt. Darin dreht sich alles um Waffen, Geballer und das eigene Überleben. Eine Altersempfehlung des Herstellers gibt es nicht. Bedeutet das, Eltern können Fortnite bedenkenlos erlauben?
Eine fehlende Altersempfehlung bedeutet ja nicht, dass das Spiel für jedes Alter geeignet ist. Online-Spiele unterliegen keiner gesetzlich geregelten Kennzeichnungspflicht. Grundsätzlich empfehle ich Eltern, sich dafür zu interessieren, mit welchen Spielen sich ihre Kinder beschäftigen und sich ein eigenes Bild zu machen. Im Zweifel ist es hilfreich zu beobachten, wie das Kind auf das Spiel reagiert: Wird es besonders unruhig oder aggressiv? Hat es noch andere Interessen oder dreht sich alles nur um den Medienkonsum und das Spiel?
Aber sonst ist tägliches Zocken okay?
Das hängt vom Alter ab. Empfohlen wird eine maximale Konsumdauer von allen Bildschirmmedien zusammen – also Computer, Fernsehen, Spielekonsole, Tablet und Handy – für Drei- bis Sechsjährige von höchstens 30 Minuten täglich, bei Kindern über sechs Jahren von 45 bis 60 Minuten.
In den Schuleingangsuntersuchungen wird der Medienkonsum von uns abgefragt. In den letzten vier Jahren sieht der Trend so aus: Ein Drittel der Schulneulinge ist täglich 30 Minuten mit Medienkonsum beschäftigt, gut 40 Prozent geben 60 Minuten an und 20 Prozent 120 Minuten. Wobei wir davon ausgehen, dass unsere Daten den tatsächlichen Konsum eher unterschreiten.
Woran erkenne ich, dass mein Kind eine Pause von der Spielekonsole braucht?
Wenn es dem Kind schwerfällt, seinen Medienkonsum einzuschränken, wenn ansonsten keine Interessen mehr vorhanden sind, wenn auch außerhalb der Spielzeiten sich die Gedanken nur noch um die Medien drehen, sollten Eltern aufhorchen. In der Folge kann es zu weiteren Problemen kommen, wie etwa der Vernachlässigung sozialer Kontakte, nachlassenden Leistungen in der Schule und der Mediennutzung als einziger Möglichkeit, die Stimmung zu verbessern. Es kommt zu Unruhe, Nervosität, das Kind reagiert auffällig frustriert, wenn es keinen Zugang zu Medien hat.
An wen kann man sich wenden, wenn solche Symptome beim Kind auftreten?
Erster Ansprechpartner sollte immer der Kinderarzt sein. Auch die Suchtberatungsstellen können weiterhelfen, die ebenso einer Schweigepflicht unterliegen. Bei uns im Kreis Euskirchen nimmt der Caritasverband diese Aufgabe wahr. Rat und Hilfe bieten außerdem die hiesigen Erziehungsberatungsstellen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hält zu dem Thema auch viele Infos im Internet bereit.