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Frankreich-TourDieser Euskirchener zuckelte mit 45 km/h nach Taizé

Lesezeit 6 Minuten
Ein 75-jähriger Mann sitzt auf einem roten Roller. Der Roller befindet sich auf der Wiese eines Gartens. Im Hintergrund befinden sich Wohnhäuser.

Gerd Weinand fuhr mit seinem Roller über die französische Route 66 nach Taizé

Der Euskirchener Gerd Weinand fuhr mit seinem Roller 700 Kilometer in den französischen Pilgerort Taizé.

1994 hat Gerd Weinand die amerikanische Route 66 bezwungen. Mit dem Motorrad fuhr der damals 45-Jährige Euskirchener von Chicago nach Los Angeles. „Eine Traumstrecke“, sagt er. Aber eine, die einem „so einiges abverlangt.“ Und damals sei er „noch fit“ gewesen. Jetzt war der Rentner wieder auf der Route 66 unterwegs – allerdings nicht auf der amerikanischen, sondern auf der französischen. Nicht mit dem Motorrad, sondern mit dessen „kleinen Bruder“, dem Roller. Nicht mit 100, sondern mit 45 Kilometern pro Stunde. „Im Berg waren es nur 25“, ergänzt Weinand und lacht. Und es habe einige Berge gegeben auf den 700 Kilometern von Euskirchen ins französische Taizé.

Taizé ist für Gerd Weinand aus Euskirchen ein Sehnsuchtsort

Als gläubiger und praktizierender Katholik war Weinand schon häufig in Taizé. Der kleine Ort nahe dem ostfranzösischen Cluny ist bekannt für seine ökumenischen Treffen, zu denen jährlich rund 100.000 Besucher vieler Nationalitäten und Konfessionen kommen. Auf Weinands Reisen nach Taizé ging es immer mehr um das Ankommen am Sehnsuchtsort, weniger um die Reise dorthin.

Um schnell dort anzukommen, nahm er bisher die Autobahn. „Da rauschte ich dann so durch Frankreich – einfach nur schnell vorbei an kleinen Dörfern, verfallenen Häusern, blühenden Feldern“, erinnert er sich. Da bekomme man kaum etwas von seiner Umgebung mit, sagt er.

Mit Warnweste und ganz langsam fuhr Gerd Weinand über die Landstraßen

Diesmal sei das anders gewesen. Diesmal habe er seine Umgebung intensiv wahrgenommen. Denn dafür sei Zeit, wenn man mit 25 Stundenkilometern durch die Dörfer fahre. Schließlich dürfe „der kleine Roller“ mit „seinem kleinen Nummernschild“ gar nicht auf der Autobahn fahren, nur auf Landstraßen. Und selbst auf denen gehörte Weinand zu den langsameren Verkehrsteilnehmern. Weinand: „Deswegen hatte ich eine Warnweste an.“

Mit dieser Warnweste und seiner geringen Geschwindigkeit hatte Weinand erwartet, angehupt oder in riskanten Manövern überholt zu werden. Deshalb war er beinahe überrascht, als das nicht passierte: „Die Autofahrer hinter mir waren geduldig. Wenn sie nicht überholen konnten, taten sie es nicht. Und wenn sie es doch taten, hielten sie zwei Meter Abstand.“ Auf den französischen Landstraßen herrsche eine gewisse Gelassenheit, erzählt Weinand. Eine Gelassenheit, die ansteckend wirke.

Im Straßenverkehr zeigen sich die Franzosen gelassen

Die Auswirkungen zeigten sich bereits am zweiten Tag seiner Reise: „Ich hatte Metz hinter mir gelassen, da wurde plötzlich mein Roller langsamer.“ Dann blieb Weinand stehen. Noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hatte er zurückgelegt. Doch der 75-Jährige blieb ruhig, fokussiert und so gelassen, wie er zuvor die Franzosen im ländlichen Straßenverkehr erlebt hatte.

„Ich hatte zunächst die Vermutung, es liege an der Zündkerze“, sagt er. Also hielt er am Straßenrand und tauschte sie aus. Als das nichts brachte, vermutete er, der Vergaser sei das Problem. „Aber damit kenne ich mich nicht aus.“ Also rief er den französischen Pannendienst an. „Aber gelöst haben die das Problem auch nicht.“ Stattdessen hätten sie den Roller kurzerhand aufgeladen – „huckepack genommen“, sagt Weinand – und nach Charmond gebracht, in die nächstgelegene Stadt.

Alle Werkstätten hatten geschlossen

Dort mietete Weinand sich in ein Hotelzimmer ein. Schließlich war an eine Weiterfahrt nicht mehr zu denken. Doch in Charmond stand er vor dem nächsten Problem: Alle Werkstätten hatten geschlossen. Aber Weinand glaubte nicht an so viel Pech, kundschaftete eine Werkstatt in der Nähe seines Hotels aus und schob seinen Roller auf gut Glück dahin.

„Die Werkstatt war nur einen Kilometer entfernt. Und so ein kleiner Roller lässt sich gut schieben.“ „Fermé“ ist das französische Wort für geschlossen. Und auch diese Werkstatt war „fermé“, erzählt Weinand. Allerdings sei auf dem Werkstattgelände der Inhaber herumgelaufen. Als Weinand ihn um Hilfe bat, rief auch dieser: „Fermé!“ Und erklärte, er habe keine Zeit, er könne nicht.

Weinand spürte, dass nun nicht die richtige Zeit für französische Gelassenheit, sondern für deutsche Hartnäckigkeit war: „Ich ließ nicht locker, ich erzählte von meiner Reise, von Taizé, ich flehte ihn sogar an.“ Schließlich „erbarmte“ sich der Inhaber, sagt der 75-jährige Katholik und lacht.

Der Mechaniker fand den Fehler und erneuerte die Benzinpumpe

Der Inhaber „untersuchte“ den Roller mit geschultem Auge. „Und dann war der Fehler auch ziemlich schnell gefunden“, sagt Weinand. Es habe an der Benzinzufuhr gelegen. „Die Benzinpumpe musste erneuert werden“. Das geschah noch am selben Tag. „Aber weitergefahren bin ich nicht, denn es war schon spät“, erzählt er.

Stattdessen nahm er sich ein „typisch französisches Appartement, mit sehr schönem Garten. „Und am nächsten Morgen plumpste die Hauskatze durch das Dachfenster in mein Bett und wollte gestreichelt werden“, sagt Weinand. Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Herrlich!“ Die Probleme des Vortages waren vergessen; die Zeit für Gelassenheit war wieder angebrochen.

Der 75-Jährige kommt in Taizé an

Die Hauskatze zurücklassend, brach Weinand dann nach Taizé auf. Dort angekommen, musste er sich erstmal „neu sortieren“, sich „umstellen“. Nach der Einsamkeit der vergangenen Tage stellte der Pilgerort mit seinen Menschenmassen ein starkes Kontrastprogramm dar. „Und auch der Tagesablauf ist streng getaktet gewesen“, sagt Weinand: „Morgengebet, dreimal am Tag Kirchenbesuch, Gesänge und dann Gespräche in Kleingruppen – also Langeweile hat da niemand.“

Bei diesen Gesprächen in Kleingruppen lerne er die Menschen immer gut kennen, erzählt Weinand. Es sei ein leichtes an diesem Ort. Schließlich habe man schon diesen kleinsten gemeinsamen Nenner, der es so leicht mache, sich zu öffnen: den Glauben.

Zunächst spreche man über Psalmen, doch gehe es in diesen Psalmen für jeden um etwas anderes. Und so seien die Psalmen für die Teilnehmer der Kirchentage bloß der Schlüssel, um einander das zu offenbaren, was sie gerade bewege. „Für mich ist die Bibel ein Zugang zu anderen Menschen“, sagt er.

Der Euskirchener und der Hamburger entdecken viele Gemeinsamkeiten

Und diesen Zugang hatte Weinand bei seinem diesjährigen Aufenthalt besonders zu einem Mann aus Hamburg gefunden. „Ich war mit meinem Roller da, er mit seiner Ente“, sagt Weinand: „Dem 2CV von Citroen, nicht dem Tier“, ergänzt er und lacht. Dann sucht er emsig nach einem Foto, das ihn hinter dem Steuer des kleinen Wagens zeigt. „Die fährt ja auch nur so 90 Stundenkilometer, wir waren beide langsam unterwegs.“

Und auch sonst hätten die beiden viel gemeinsam gehabt, erklärt er. Zum Beispiel hätten sie beide ihren Job verloren. Der Mann aus Hamburg kürzlich, Weinand vor Jahren. „Ich habe bei einem großen Euskirchener Möbelhaus gearbeitet – als Geschäftsführer“, sagt er. Aber es habe Uneinigkeiten gegeben. „Über soziale Fragen“, sagt er und nickt. „Soziale Fragen“, wiederholt er noch einmal. Mehr sagt er dazu nicht. Nach einer Pause: „Und dann wurde ich abberufen, bei Geschäftsführern geht das ja einfach“.

Mit Anfang 50 hatte Weinand seinen Job verloren

Anfang 50 war Weinand, als er seinen Job verlor und sich neu orientierte. „Ich begann dann im Caritas-Möbelhaus – eine sozialere Arbeit, schlechter bezahlt, und viel viel langsamer.“ Das schlechte Gehalt machte ihm aber nichts aus. Mit Anfang 50 sei er genügsam gewesen. „Das Haus war abbezahlt gewesen und ich brauchte nicht viel.“

So habe sich Langsamkeit und innere Ruhe eingestellt. Er legt seine Hand auf seine Brust. Darüber habe er in Taizé mit dem Mann aus Hamburg gesprochen. Darüber, dass man sich im Leben immer neu orientieren kann. Darüber, dass es im Leben eben nicht immer die Route 66 in Amerika sein muss, über die man mit 100 Stundenkilometern heizt. Und darüber, wie friedlich es auf französischen Landstraßen sein kann.