Im Prozess um den Unfalltod einer 17-Jährigen in Wachtberg wurden die Plädoyers gehalten. Die Anklage fordert eine Haftstrafe auf Bewährung für die 62-jährige Unfallfahrerin
Prozess um Tod einer 17-Jährigen in Wachtberg„Die Schreie einer Mutter gehen ins Leere“
Es sind Szenen eines nie mehr endenden Alptraums: Eine Mutter, die an der Unfallstelle nach letzten Zeichen ihrer tödlich verunglückten Tochter sucht, nach Zeichen ihres Überlebens. Stattdessen nur Fläschchen, Spritzen, Verbandsmaterial, das Notärzte bei ihrem Rettungseinsatz zurückgelassen haben. 50 Meter war die 17-jährige Radlerin nach dem frontalen Aufprall gegen die Windschutzscheibe eines hellblauen Focus geschleudert worden und dann im Feld liegen geblieben.
Wachtberg-Villip: 17-Jährige stirbt bei Unfall
Den nächsten Tag hat die Schülerin nicht mehr geschafft, in der Nacht noch ist sie in der Uniklinik gestorben. Die fünfköpfige Familie aus Bonn hat ihr Herz verloren. „Die Schreie einer Mutter gehen ins Leere“, erinnerte sich die Mutter gestern im Bonner Prozess gegen die 62-jährige Erzieherin, die ihrer ältesten Tochter fahrlässig das Leben genommen und die jüngere – damals 16 Jahre alt – schwerstverletzt hat. Die 51-Jährige hat gestern am Tag der Schlussworte vor der 2. Großem Strafkammer ein mitreißendes, emotionales, liebevolles, zugleich zorniges Plädoyer gehalten, gegen den Schmerz und das Nichtverstehen, warum das alles geschehen ist.
„Keine Strafe“, so hatte zuvor die Staatsanwältin Judith Jakob fast entschuldigend in ihrem Plädoyer betont, könne bei dem Schmerz und Verlust angemessen sein . Die Anklägerin hat anderthalb Jahre Haft mit Bewährung für die fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung gefordert. Die Angeklagte hätte, so Jakob, wenn sie aufmerksam gewesen wäre, den Unfall vermeiden können; damit habe sie sich eines groben Fahrfehlers schuldig gemacht, mit dramatischen Folgen.
Schwestern auf dem Heimweg erfasst
Am 3. Juli 2023 war die 62-Jährige auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle, in einer leichten Rechtskurve der Kreisstraße 57 auf die Gegenfahrbahn gekommen, wo ihr die beiden Schwestern auf ihren Pedelecs auf dem Heimweg vom Reiterhof in Gimmersdorf Richtung Villip entgegen kamen. Ein unfassbares Unglück Beide Mädchen, die hintereinander fuhren, hätten nichts falsch gemacht, betonte die Staatsanwältin. Es sei „ein unfassbares Unglück“, das die Radlerinnen gerade dort fuhren, als die 62-Jährige ungebremst geradeaus und mit 80 Stundenkilometer in sie hinein raste.
Die zentrale Frage des Prozesses jedoch blieb bis gestern ungeklärt: Denn die Angeklagte hat keine Erinnerung daran, wie sie auf die Gegenfahrbahn geraten ist, warum sie – laut Gutachter - mindestens vier Sekunden lang im Blindflug gefahren ist, mithin 100 Meter. Vier Sekunden lang sei ihre Aufmerksamkeit nicht auf der Fahrbahn gewesen.
Tödlicher Unfall in Wachtberg: Keine Hinweise auf Aussetzer
Warum sie versagt hat, darüber gibt es nur Spekulationen. Es gibt keine medizinischen Hinweise auf einen Aussetzer, ein Handy war nicht an Bord. Ob es eine verlorene Brille oder Handtasche war, die sie Fußraum gesucht haben könnte? Die Angeklagte selbst gibt an, dass womöglich eine Amnesie ihre Unfall-Erinnerung geschluckt haben könnte; ein Gutachter bestätigte, dass es durchaus einen Schutzmechanismus gebe, um sich vor dem Grauen, das man selber zu verantworten hat, zu verwahren.
Ihr Verteidiger sagte in Schlussvortrag, das Nicht-Erinnern sei keine Schutzbehauptung. Er plädierte auf eine Geldstrafe oder eine Bewährungsstrafe über neun Monate. Nebenklage glaubt nicht an eine ErinnerungslückeDer Nebenklage-Anwalt glaubte der Angeklagten nicht: „Sie versteckt sich hinter einem vorgeschobenen Blackout.“ Er ist sich sicher, dass die 62-Jährige sich um die Verantwortung drücke, dass sie deswegen Ausreden suche, um sich nicht stellen zu müssen. „Wir glauben ihr die Erinnerungslücke nicht“. Sie habe sich, so der bittere Vorwurf des Anwalts, „als Opfer inszeniert“.
Angeklagte meldet sich bei der Familie nicht
Für die Familie auf der Nebenklage-Bank war diese scheinbare Gefühlskälte der 62-Jährigen kaum zu ertragen. Weil die Angeklagte sich nach dem Unfall nicht gemeldet hatte, hat die 51-jährige Mutter einen fiktiven Brief an sie geschrieben (dann aber nicht abgeschickt), den sie gestern vorgetragen hast. Darin schildert sie den Schmerz („wie eine Herz-OP ohne Narkose“), den Verlust und fleht die Adressatin an, ihnen zu sagen, „warum sie in unsere Kinder gerast ist.“ „Ich schreibe Ihnen, weil wir Ehrlichkeit erwarten“, heißt es in dem Brief. Aber die Antwort, die die Familie so sehr erhofft, bleibt in diesem Prozess aus.
In ihrem letzten Wort hat die 62-Jährige sich erneut entschuldigt. Auch hat sie versucht, zu erklären, warum sie so gleichgültig und unbeteiligt rüberkommt: „Ich war unsicher, ob die Familie einen Kontakt mit mir wollte.“ Deswegen auch habe sie so spät erst geschrieben. Der Vorwurf der Familie, dass sie die beiden Töchter mit „Kind 1 und Kind 2“ bezeichnet habe, erklärte sie wie folgt: „Ich wusste nicht, ob es angemessen gewesen wäre, dass ich die Namen der Töchter in den Mund nehme.“
Dafür hat die Mutter gestern noch mal ihrer toten Tochter eine Stimme gegeben, auch all den vielen, die im Zuschauerraum diesen Prozess begleiten: die Familie, die Freunde, die Klassenkameraden. „Sie hat so gerne gelebt, sie hatte gerade ihre Flügel ausgebreitet, um ins Leben zu gehen.“ Die Erinnerung der Mutter an das wunderbare, unbeschwerte Lachen ihrer Tochter, brachte viele zum Schluchzen.
Das Urteil zu dem Prozess soll am nächsten Dienstag verkündet werden.