Mangel an TerminenKinder leiden stärker unter der Pandemie
Bonn – Hannah ist schon immer ein ängstlicher Typ gewesen. An die weiterführende Schule hat sich die Neuntklässlerin nur langsam gewöhnt. Mit der Zeit ist es besser geworden. Corona hat dann aber vieles verändert. Im Distanzunterricht hat sich Hannah im Frühjahr nicht mehr richtig wahrgenommen gefühlt. Ihr fehlen die Nachmittage mit den Freundinnen. Zu Hause ist die Stimmung häufig aufgeladen. Die Angst vor dem Virus quält sie genauso wie die Angst, sich zu blamieren. Abends schläft sie schlecht ein, und wenn sie an die nächste Mathearbeit denkt, dreht sich alles im Kopf.
Hannah gibt es nicht. Mädchen und Jungen wie Hannah gibt es dagegen viele. Und während die Erwachsenen über Hilfspakete und Friseurbesuche diskutieren, über mehr Schutz in Altenheimen und Familienbesuche an Weihnachten, bleiben die Sorgen junger Menschen im Hintergrund. Dabei sind die evident. Wissenschaftler des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) haben in ihrer Copsy-Studie (Corona und Psyche) im Mai und Juni ein erhöhtes Risiko psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen infolge der Pandemie nachgewiesen. Demnach sind statt 18 nun 31 Prozent von psychischen und psychosomatischen Auffälligkeiten betroffen.
Corona wirkt wie ein Brennglas
Diese Tendenz sehen auch Bonner Psychotherapeuten und Psychiater. Detlef Burow in Poppelsdorf behandelt als Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche nur Privatpatienten. Er sagt: „Selbst bei mir hat die Nachfrage nach Terminen deutlich angezogen. „Wie in einem Brennglas“ haben die Folgen der Pandemie wie Distanzunterricht und Lockdown die psychischen Probleme vieler junger Menschen verdichtet und seien Anlass für Störungen. „Der Mangel an Alternativen beschäftigt viele, und sie haben anders als Erwachsene noch nicht gelernt, damit umzugehen“, sagt Burow. Er schätzt, dass in schwierigen familiären Verhältnissen die Situation dramatischer sei.
Während bei Burow in Poppelsdorf noch Termine zu haben sind, sieht es in der Normalversorgung für Kassenpatienten selbst in Bonn mit seiner hohen Arzt- und Therapeutendichte düster aus. Ein großer Anbieter sind die von der Axenfeld-Stiftung getragene Versorgungszentren an der Godesburg und in der Graurheindorfer Straße. Schon der Versuch, dort probeweise einen Termin zu bekommen, scheitert.
Psychologische Beratung in Bonn
Die Stadt Bonn bietet Kindern und Jugendlichen bis 22 Jahren sowie deren Eltern kostenlose psychologische Beratung an. Derzeit finden Termine je nach Wunsch am Telefon, im Videogespräch und im persönlichen Gespräch mit Abstand statt. Termine für die schulpsychologische Beratung etwa bei konkreten Schulproblemen oder -ängsten werden werktags zwischen 8 und 12 sowie 13 und 16 Uhr, mittwochs nur nachmittags, freitags nur vormittags unter 02 28/77 45 63 vergeben. Die Familien- und Erziehungsberatung vergibt Termine unter 02 28/ 77 45 62. Alle Mitarbeiter unterliegen der Schweigepflicht. Auch die katholische und die evangelische Kirche haben psychologische Beratungsstellen.
Am Telefon verweist eine Bandansage tagelang auf die Online-Terminbuchung. Im Internet gibt es für psychologische Diagnostik keine freien Termine. Bei einer Therapie lägen Wartezeiten bei drei bis sechs Monaten, sagt Geschäftsführer Klaus Graf. Erstgespräche seien aber im Regelfall binnen zwei Wochen möglich.
Wartezeiten für einen Erstkontakt zwischen ein bis drei Monaten
Nur etwas besser ist die Lage am Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) Psyche am Bertha-von-Suttner-Platz. Dort kümmern sich allein 60 Therapeuten nur um Kinder und Jugendliche. Die angegliederte Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie ist im Bereich der Tiefenpsychologie die größte Ausbildungsstätte in NRW. „Trotzdem liegen unsere Wartezeiten für einen Erstkontakt bei drei bis sechs Monaten“, sagt Leiterin Sabine Trautmann-Voigt. Therapeutisch sei das eigentlich nicht zu verantworten.
2011 bis 2014 hat Trautmann-Voigt als Mitautorin einer Studie im Auftrag der Landesregierung unter anderem in Bonn die Versorgungslage untersucht. „Schon damals zeigte sich, dass die Kapazitäten nicht ausreichten“. In der Zwischenzeit sei der Bedarf unter anderem infolge der Flüchtlingskrise weiter gestiegen. Eine Aufstockung der Therapieangebote habe es indessen nicht gegeben. Im Gegenteil: Mit einem neuen Ausbildungsreformgesetz habe der Bund im September 2020 Pädagogen von der Ausbildung zum Psychotherapeuten ausgeschlossen. „Dabei sind 80 Prozent unserer werdenden Therapeuten Pädagogen“. Künftig sei nun ein Psychologie-Studium erforderlich. Der spezialisierte Berufszweig für Kinder und Jugendliche werde ganz abgeschafft. Der Mangel an Therapeuten werde sich damit weiter verschärfen.
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Auch in den familien- und schulpsychologischen Beratungsstellen der Stadt Bonn ist die angespannte Situation spürbar. „Seit dem Sommer haben wir vermehrt Anfragen“, sagt Abteilungsleiterin Jutta Bennecke. 2020 waren es 470 und damit rund 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Grundängste äußerten sich in Stressreaktionen, gerade bei Jungen in der Pubertät auch in aggressivem Verhalten. Auch um Gewalt in der Familie sorge sich das Team, wenn jetzt im Distanzunterricht und bei geschlossenen Kindergärten Lehrer oder Erzieher nicht mehr als umsichtiges Korrektiv zur Verfügung stünden.
Oft hilft schon ein einfaches Gespräch
Dabei betont Bennecke, dass längst nicht alle Probleme einer längeren Therapie bedürfen. „Oft hilft es Kindern und Jugendlichen schon, wenn sie jenseits der Eltern mit jemandem über ihre Probleme sprechen können“. Ansonsten versuche das Team die Wartezeit bei einem regulären Therapeuten mit mehreren Terminen zu überbrücken. Sähen die Mitarbeiter den Verdacht auf eine klinische Störung oder ein selbstverletzendes Verhalten, vermittelten sie an die LVR-Klinik.
„Wir bieten im ambulanten Bereich ausschließlich eine umfassende Diagnostik mit zahlreichen Testungen sowie viele Spezialsprechstunden“, sagt Klinik-Pressesprecher Tilmann Daub. Auch durch die derzeit vakante Chefarztstelle sei die Lage derart angespannt, dass Ärzte sich dazu nicht äußern könnten. Die Wartezeiten lägen – abgesehen von akuten Notfällen mit Suizid-Gefahr – aktuell bei zwei bis drei Monaten.