Dr. Michael Winterhoff, ein bekannter Kinderpsychiater und früherer Bestsellerautor, steht wegen 36 Fällen gefährlicher Körperverletzung durch unzulässige Medikamentenverordnungen in Bonn vor Gericht.
ProzessauftaktBonner Kinder- und Jugendpsychiater Winterhoff bestreitet Vorwürfe

Der angeklagte Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff (M) steht neben seinen Anwälten im Gerichtssaal.
Copyright: dpa
Der Angeklagte ist einer der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendpsychiater, er hat Bestseller geschrieben, war Gast in TV-Talkshows, doch jetzt fürchtet Dr. Michael Winterhoff (70) um seinen Ruf und sein Lebenswerk: Seit gestern muss sich der gebürtige Bonner vor dem Landgericht seiner Heimatstadt verantworten.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm gefährliche Körperverletzung in 36 Fällen vor. Er soll Kindern und Jugendlichen zwischen August 2004 und November 2021 ein Psychopharmakon dauerhaft verordnet haben, obwohl dafür keine Indikation vorgelegen und es auch nicht den ärztlichen Leitlinien entsprochen habe. Der Angeklagte hat alle Vorwürfe zurückgewiesen.
Angeklagter Psychiater weist alle Vorwürfe zurück
Als Winterhoff am Mittwochvormittag in dunklem Anzug und weißem Hemd, begleitet von seinen Verteidigern Kerstin Stirner und Markus Dinkelbach und seinem Medienanwalt Christoph Jarno Burghoff, sehr blass, aber mit schnellem Schritt den Saal 11 des Landgerichts betrat, wurde er von zahlreichen Fotografen und Kameraleuten erwartet.
Ihm gegenüber saßen in zwei langen Stuhlreihen zwei Staatsanwältinnen, die Vertreter von sieben Nebenklägern und der Gutachter Dr. Matthias Schwarz von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Köln.
Der Prozess vor der 7. Großen Strafkammer unter dem Vorsitz von Isabel Köhne ist einer der größten der vergangenen Jahre in Deutschland gegen einen Mediziner. Äußerlich ungerührt hörte Winterhoff der Verlesung der Anklage durch Staatsanwältin Silke Drosse zu. Sie warf ihm schwere ärztliche Fehler und Körperverletzung durch „Beibringen von Gift“ vor.
Danach soll er 36 Kindern und Jugendlichen, die er wegen der Diagnose „frühkindlicher Narzissmus“ behandelt habe, dauerhaft das Medikament Pipamperon oder ein entsprechendes Generikum verordnet haben, obwohl „hierfür keine Indikation im Rahmen der Zulassung“ des Arzneimittels bestanden und es „auch nicht den ärztlichen Leitlinien“ entsprochen habe.
Pipamperon ist ein Neuroleptikum, das in der Psychiatrie als Therapie gegen aggressive psychotische Zustände und Schlafstörungen angewendet wird. Es wirkt sedierend, zu den Nebenwirkungen sollen Übelkeit und Bewegungsstörungen gehören.
Unberechtigte Verschreibung von Medikament Pipamperon?
Laut Anklage habe Winterhoff die Eltern oder andere Sorgeberechtigte der Patienten über „alle relevanten Nebenwirkungen nicht umfassend“ aufgeklärt, so dass sie nicht selbstbestimmt über die Medikation hätten entscheiden können. Die Behauptung des Arztes, Pipamperon mache die Kinder „emotional erreichbar“, sei wissenschaftlich nicht nachweisbar, sagte die Staatsanwältin. Vielmehr habe er die Kinder „gefügig“ machen wollen für die von ihm empfohlenen „autoritären Erziehungsmethoden“.
Eines der Bücher Winterhoffs heißt „Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder: Die Abschaffung der Kindheit“ und schaffte es 2008 auf die Sachbuch-Bestsellerliste des „Spiegel“; danach wanderte er durch Talkshows, wo er seine Thesen erklärte, und wurde ein gefragter Tagungsredner.
Mehr als 40 Verhandlungstage im Prozess angesetzt
Der Arzt habe mit seinen Fachvorträgen „ganze Säle“ gefüllt, erklärte Winterhoffs Verteidigerin Kerstin Stirner in einem Statement zu Prozessbeginn.Mit der positiven Publicity aber war es im Sommer 2021 vorbei.
Damals gingen bei der Staatsanwaltschaft Bonn mehrere Strafanzeigen gegen Winterhoff ein, der WDR und die „Süddeutsche Zeitung“ berichteten über Kinder und Jugendliche, die bei dem Psychiater in Behandlung waren und an heftigen Nebenwirkungen der verordneten Arznei gelitten hätten.
Eine Ermittlungsgruppe der Bonner Polizei sei den Fällen in 15 Heimen und Jugendeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz nachgegangen, berichtete der damalige Ermittlungsführer als Zeuge; bei einer Durchsuchung in Winterhoffs Praxis im Mai 2022 wurden 3000 Akten von Patienten beschlagnahmt, bei 900 wurde die Einnahme von Pipamperon nachgewiesen. Dazu kamen mehrere Hundert Akten aus Kindereinrichtungen.
Aus diesem Konvolut destillierte die Staatsanwaltschaft nach Vernehmungen von Betroffenen, deren Eltern sowie Heimleitungen die jetzt angeklagten 36 Fälle. Verteidigerin Stirner wies die Vorhaltungen zurück.
Ihr Mandant habe „mit Tausenden von Familien gearbeitet“, die sich in schweren Krisensituationen befunden hätten, und ihnen helfen wollen. Die Kinder seien sogenannte „Systemsprenger“ gewesen, die von einer Jugendeinrichtung in die andere gewechselt seien; die klassische Behandlung habe bei ihnen nicht gewirkt.
Von den 36 Kindern und Jugendlichen lebten zum Zeitpunkt der Behandlung bei Winterhoff nur zwei bei den Eltern, alle weiteren in Heimen. Winterhoff habe den Patienten „den Weg in ein normales Leben ermöglichen“ wollen. Der Fall 8 der Staatsanwaltschaft beschäftigt sich mit einem Mädchen namens Lara, das vom Gericht als Nebenklägerin zugelassen ist.
Ihre Prozessvertreterin, Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, erklärte, Lara sei von ihrer Mutter in ein Heim gegeben worden, weil sie selbst wegen einer Depression stationär behandelt werden musste. Die Minderjährige sei, anders als von Winterhoffs Medienanwälten in einer Presseerklärung vom Dienstag behauptet, keine „Systemsprengerin“ und auch nicht schwer erziehbar.
Die entsprechende Veröffentlichung, in der auch aus Ermittlungsunterlagen zitiert worden sei, solle als Beweismittel zu den Akten genommen werden, forderte Basay-Yildiz. Das Gericht, das bis zum August mehr als 40 Verhandlungstage angesetzt hat, wird das prüfen.