Hohe Erwartungen und gebrochene Versprechen prägen die Erinnerungen vieler Menschen in der Ex-DDR. Schriftsteller Wladimir Kaminer wirft einen Blick hinter die Kulissen.
Gastbeitrag Wladimir Kaminer„Die Sahra liest den Menschen aus dem Märchenbuch DDR vor“
Eigentlich geht es uns gut. Brandenburg, Thüringen und Sachsen sind für mich die schönsten Ecken Deutschlands, hier gibt es mehr Birken als in Russland und die Sonnenblumen werden so groß wie Palmen. Im Herbst, wenn es genug geregnet hat, erwarten wir eine große Pilzernte: Steinpilze, Butterpilze, Maronen.
Und die Landtagswahlen erwarten wir auch, allerdings mit Zittern. Mein Brandenburger Nachbar Ralf, der bei jeder Wahl immer gerne als Wahlhelfer im Wahllokal sitzt, erzählte, er würde genau wissen, wer im Dorf die AfD wählt. Das seien nämlich diejenigen, die ihre Wahlzettel nicht einmal, sondern viermal knicken, damit niemand sehen kann, was sie angekreuzt haben. Das hat er mir vor acht Jahren erzählt.
Für die AfD schämt sich keiner mehr
Heute schämt sich keiner mehr im Dorf, für die Alternative zu stimmen, sie scheint hier alternativlos zu sein. Die Plakate der AfD haben die alteingesessenen Parteien von den Straßenlaternen verdrängt, nur selten lächelt Frau Wagenknecht mit ihrem frisch gegründeten BSW auf einen herunter. Sie wird in der Regel unter den AfD-Plakaten an die Lampen angebracht, man merkt, ihre Helfer sind ältere Zeitgenossen, sie steigen ungern auf die Leiter.
In fröhlicher Zweisamkeit schauen sich nun die beiden Parteien an. Nein, jetzt habe ich extra nachgeschaut, am Mast hinter der Düngerscheune, wo unser Dorf schon zu Ende ist, am Rande eines endlosen Feldes mit Sonnenblumen, versteckt sich noch ein Plakat der Freien Wähler, es fällt aber kaum auf. Die Ergebnisse der Sonntagsumfragen zeigten in der letzten Zeit ein düsteres Bild. Bei den Landtagswahlen in Sachsen kratzte die SPD an der Fünf-Prozent-Grenze, die FDP existierte gar nicht mehr und die Grünen, sollten sie noch ein Prozentpunkt verlieren, wären auch raus. Dann hätte die Bundesrepublik in Sachsen ein Drei-Parteien-Königreich mit AfD, BSW und CDU. „Die späte Rache des Ostens“ titelten die Zeitungen.
Die späte Rache des Ostens – aber wofür?
Aber wofür denn, wunderte sich der Rest der Republik. Für die Wiedervereinigung? Die war doch besser gelaufen als man sich anfangs vorgestellt hatte. Hätte jemand damals dem Osten erzählt, ihre über alles geliebte Westmark werde bald abgeschafft und eine Ostdeutsche zur Bundeskanzlerin gewählt, hätten sie sich mit dem Finger an den Kopf getippt und dem Erzähler einen Arzt gerufen. „Was haben sie denn, es geht den Menschen im Osten doch gut“, höre ich oft auf meinen Reisen, ich, der frisch zugezogene Brandenburger.
Meine Frau und ich haben zur Coronazeit Berlin verlassen und sind in Brandenburg heimisch geworden, denn dort gab es, wie man weiß, kein Corona. Ganz im Gegenteil haben die Brandenburger damals aus Funk und Fernsehen erfahren, dass sie schon immer richtig gelebt haben – mit einem 100-Meter-Abstand zum Nachbarn, um niemandem die Hand zu geben.
Mein Nachbar Ralf sagte damals, er habe diese Höflichkeitsgeste sowieso schon immer für überflüssig gehalten – jemandem ein Körperteil entgegenzuschieben. Mit Torsten, Ralf und Kay haben wir damals über die dämlichen Corona-Gesetze und Hygieneverordnungen gelästert, die Bundesregierung war völlig aus dem Häuschen, sie wusste über die Viren genau so wenig wie über den Osten und zeigte es auch: Keine Ahnung vom wahren Leben, zumindest von unserem Leben.
Der Osten ist anders, Brandenburg ist anders
Die Gesetze und Verordnungen waren vielleicht gar nicht dämlich, sie wurden bloß für ganz Deutschland verfasst, aber ganz Deutschland ist an jeder Ecke anders. Der Osten ist anders, Brandenburg ist anders. Besonders laut gelacht haben wir über die Ausgangssperre nach 22 Uhr. Wohin soll jemand gehen um die Zeit? Wir haben kaum Straßenbeleuchtung und wenn ich mich nach 22 Uhr von meinem Haus entferne, bin ich nach fünf Minuten schon im Maisfeld und kann mit den Wildschweinen politische Diskussionen führen.
Die Kneipenschließungen haben uns auch nicht tangiert, wir haben gar keine Kneipe. Es gibt ein „Haus des Gastes“ hinterm Wald, die nette Betreiberin Doro hatte es gleich zu Beginn der Pandemie geschlossen, aus Angst vor chinesischen Fledermäusen. Sie hatte aber auch davor nur freitags auf, die kleine Veränderung der Öffnungszeiten haben die Menschen in unserem Dorf gar nicht mitbekommen.
Wir saßen oft an der Bushaltestelle. Wir haben keinen Bus, aber eine hübsche Bushaltestelle mit Empfang. Unser Dorf befindet sich in einem bemerkenswerten Funkloch und das Internet ist auf dem Land sehr ungerecht verteilt. Die beste Verbindung hat man an der Bushaltestelle. Also ging ich gerne dorthin und trank mit den Einheimischen ein Bier oder zwei. Sie haben mir die Geschichte der Bushaltestelle erzählt, sie ist ein dorfeigener Mythos, eine Legende, wie das Trojanische Pferd bei den alten Griechen.
Angeblich gab es hier vor langer Zeit, in den Neunzigerjahren, viele Kinder, die mit einem Schulbus zur Schule gefahren wurden. Und eines Tages fuhr der Schulbus los und kam nie mehr zurück. Seitdem haben wir keine Schule, sie wurde geschlossen, weil es die Kinder dafür nicht gab – und keinen Bus. Aber eine gut erhaltene Bushaltestelle. Und manchmal im Herbst, wenn es davor geregnet hat, sitzen darin fremde Menschen, Pilzsammler, die sich im Wald verlaufen haben und an der falschen Haltestelle herausgekommen sind. Sie warten auf einen Bus. Die Einheimischen nicken den Fremden im Vorbeigehen zu, schauen auf die Uhr und sagen „Kommt gleich“.
Sie haben guten Sinn für Humor, ein bisschen Spaß darf sein. Das Leben macht immer bessere Witze als das Fernsehen. Da standen im Ersten Programm neulich zwei Komiker und machten Witze über den Osten. Der eine sagte, das „B“ bei der AfD stehe für Bildung. Aber das „B“ gibt es bei der AfD doch gar nicht. Wo ist denn da der Witz? Das hat bei uns keiner verstanden.
Erinnerungen an die DDR, die Titanic des Lebens
Oft und gerne erinnern sich meine Nachbarn an ihre Heimat, die untergegangene DDR, die Titanic ihres Lebens. Nicht, dass sie dieser Titanic nachtrauern oder sie vermissen würden, das nicht. Was vorbei ist, ist vorbei. Aber es sind viele Fragen offen geblieben. Vor allem: Wo ist das ganze Zeug?
In der DDR gab es jede Menge Zeug. Wo ist das alles hin? Mein Nachbar Detlef, ein Oberst im Ruhestand, das heißt ein ehemaliger degradierter General der NVA (angeblich hat die Bundeswehr alle Ostgeneräle degradiert, um keine Generalspension zahlen zu müssen), erzählte, es gab früher in der DDR drei U-Boote. Wo sind sie jetzt? Niemand weiß es. Alles verkauft und verraten, aber es geht uns gut, man kann nicht meckern, sagen meine Nachbarn.
Sie erinnern sich, wie der Schröder als guter Kumpel ins Bundeskanzleramt kam. Er würde Kohls Versprechen von den blühenden Landschaften wahr machen, dachten viele, die anfangs noch Kohls „Allianz für Deutschland“ (auch AfD) gewählt hatten. Schröder war für die Schwachen und die Unterbezahlten, er rüttelte an den Gittern des Bundeskanzleramts, lässt uns mitregieren! Zusammen mit dem Lafontaine und dem anderen, wie hieß er noch mal, der Dritte? Genau, Scharping. Und was hat es gebracht? Hartz IV.
Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die gleichen Gehälter kannste vergessen, ein Busfahrer in Düsseldorf und ein Busfahrer in Bautzen bekommen immer noch nicht den gleichen Lohn, obwohl sie die gleichen Busse fahren. Die Ostdeutschen kommen sich vor wie die Burgenländer in Österreich, es werden unheimlich gerne Witze über die blöden Ossis und ihre Ostalgie erzählt.
Und im Westen habe ich tatsächlich Leute kennengelernt, die glauben, der Solidaritätszuschlag wird nur im Westen erhoben. „Wie lange noch sollen wir diesen Soli zahlen“, regten sie sich auf. „Warum kann der Osten noch immer nicht ohne? Ist es das DDR-Erbe?“
Apropos Erbe. Die Karte der Höhe der Erbschaftssteuer in Deutschland spricht eine klare Sprache, fast 90 Prozent dieser Steuer wird im Westen erhoben, als wären die Ostdeutschen allesamt Waisenkinder, die nichts zu erben hätten. Aber es geht uns gut, wir haben uns selbst gekümmert und wir sind nicht nachtragend. Nur ein bisschen. Und so kam die AfD, das A steht für Alternative. Zum alteingesessenen politischen Pack, gegen die da oben.
Und deswegen besteht das politische Programm dieser Partei fast komplett aus Hetze, Hetze gegen die anderen Parteien, gegen die abgehobenen Grünen, die uns erzählen wollen, wie wir essen, heizen und fahren sollen, Hetze gegen die großen bürgerlichen Parteien, die sich nie gekümmert und nur die Aufträge für die Städteverschönerung verteilt haben, natürlich an Firmen im Westen.
Die, die ostdeutsche Einkaufszentren errichteten, ohne die Einheimischen zu fragen, ob sie sie haben wollen. Die Gewinne wurden wie stets privatisiert, die Verluste verstaatlicht. In den meisten Einkaufszentren herrscht gähnende Leere, viele Geschäfte haben zugemacht.
Sahra und das Märchenbuch der DDR
Und dann kam das BSW, unsere Sahra hat es noch feiner als die AfD gemacht, sie hat dem Osten den Zauberspiegel gezeigt, in diesem Spiegel ist der Osten noch jung und hat volle Haare. So funktioniert das menschliche Gedächtnis, man vergisst schnell alles Schlechte und malt das Gute besser aus, als es jemals war.
Die Sahra liest den Menschen aus dem Märchenbuch DDR vor: kostenlose Kinderversorgung, vernünftige medizinische Betreuung, Bildung für alle, und das Wichtigste von allem – Weltfrieden, es lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft! Die Russen sind gut, sie waren immer gut zu uns, also können sie keine Kriegsverbrecher sein, man muss sie nur höflich fragen. Bloß der abgehobene Westen weiß nicht Bescheid.
Doch die Ostdeutschen wissen Bescheid. Viele von ihnen waren früher in Russland, noch in der Sowjetunion, sie haben an der Baikal-Amur-Magistrale mitgebaut, am Lagerfeuer sowjetische Schlager mitgesungen. Es war eine sehr schöne Zeit. Sie waren alle Mitglieder der DSF, der deutsch-sowjetischen Freundschaft, und haben ihre Monatsbeiträge bis auf den letzten Pfennig bezahlt.
Ihre Ausweise haben sie noch Zuhause. Sie bringen diese Ausweise zu meinen Lesungen mit, zeigen die Stempel und sagen: Hier, alles bezahlt. Und wo ist die Freundschaft hin? Die Sahra gibt an, den Schlüssel zur Tür zu haben, der geheimen Tür, die in die Vergangenheit führt. Dort hinter der Tür wartet der Weltfrieden auf uns und die guten Russen gießen Wodka ein und kochen ihre Pelmeni.
Sahras Partei wächst wie Hefeteig, viel schneller als die AfD es konnte, ihre Veranstaltungen im Osten sind stets ausverkauft. Die Vielfalt ihrer Themen hat sich in der letzten Zeit allerdings verkleinert. Nachdem, wie böse Zungen behaupten, das BSW fast neun Millionen Euro an Spendengeldern aus anonymer Quelle bekommen habe, geht es bei den Versammlungen kaum noch um medizinische Versorgung und kostenlose Bildung.
Die meiste Zeit geht es um die guten Russen, also nur um Putin und seine Bande. Das nervt, haben mir schon mehrere Anhänger gesagt. Sie wollen lieber wissen, was es mit Deutschland auf sich hat, wenn Amerika weg ist, China floppt und Russland hat sich in den Kriegen mit den eigenen Ex-Republiken verhakt. Was wird mit uns? Was soll aus uns werden?
Wladimir Wiktorowitsch Kaminer ist ein russisch-deutscher Schriftsteller und Kolumnist. 1967 wurde er in Moskau geboren, seit 1990 lebt er in Berlin. Mit seinen Erzählbänden „Militärmusik“ und „Russendisko“ sowie weiteren Bestsellern wurde er zu Deutschlands bekanntestem Russland-Erklärer.