Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Schockierendes neues GutachtenWird der Fall um angebliche „Babymörderin“ neu aufgerollt?

Lesezeit 3 Minuten
Eine Zeichnung aus dem Gericht vom 10. August 2023. In dem Jahr wurde Lucy Letby (Mitte) zu lebenslanger Haft verurteilt. Hat sich die Justiz geirrt?

Eine Zeichnung aus dem Gericht vom 10. August 2023. In dem Jahr wurde Lucy Letby (Mitte) zu lebenslanger Haft verurteilt. Hat sich die Justiz geirrt? 

Internationale Experten bezweifeln Lucy Letbys Schuld, vermuten einen Justizskandal und kritisieren das britische Gesundheitssystem.

Das Thema beherrschte am Mittwoch die Titelseiten in Großbritannien, der britische Boulevard sprach von einem Paukenschlag. Ist sie eine „Babymörderin oder ein Opfer?“, fragte die Zeitung „The Mirror“. Es war der pensionierte Neonatologe Shoo Lee, der am Dienstag mit ruhiger Stimme die Ergebnisse eines Berichts präsentierte, der nun für Aufsehen auf der Insel sorgt.

Denn dieser stellt die Schuld der wegen mehrfachen Mordes an Neugeborenen verurteilten ehemaligen Kinderkrankenschwester Lucy Letby erneut infrage – dieses Mal mit Unterstützung einer internationalen Expertengruppe. Sie hätten keine Hinweise auf Mord gefunden, sagte Lee. „In allen Fällen waren der Tod oder die Verletzungen auf natürliche Ursachen oder einfach auf schlechte medizinische Versorgung“ im Countess of Chester Hospital zurückzuführen, betonte er im Rahmen einer Pressekonferenz in London.

Katastrophale Zustände im britischen Gesundheitssystem?

Die Erkenntnisse sind das Ergebnis einer Zusammenarbeit von 14 Experten auf diesem Gebiet, darunter der Deutsche Helmut Hummler, leitender medizinischer Direktor der European Foundation for the Care of Newborn Infants (EFCNI), einer Stiftung, die sich europaweit für die Gesundheit und die bestmögliche Versorgung von Frühgeborenen und kranken Neugeborenen einsetzt. Sollte ihre Einschätzung zutreffen, würde dies auf einen Justizskandal und auf katastrophale Zustände in Teilen des britischen Gesundheitssystems NHS hindeuten. Die Mutter eines der Opfer, deren Name aus rechtlichen Gründen nicht genannt werden kann, kritisierte die Behauptungen der Experten indes. „Wir glauben an das britische Rechtssystem und denken, dass die Jury die richtige Entscheidung getroffen hat“, sagte sie.

Es ist eine weitere Wendung in einem Fall, der in den vergangenen Jahren viel Aufsehen auf der Insel erregt hat. Die Todesfälle ereigneten sich zwischen Juni 2015 und Juni 2016. Die heute 35-Jährige, die damals auf der Neugeborenen-Intensivstation eines Krankenhauses im Nordwesten Englands arbeitete, soll die Kinder vorsätzlich getötet haben, indem sie ihnen unter anderem Luft und Insulin injizierte. Für sie als Täterin sprach für das Gericht außerdem, dass sich die Todesfälle während ihrer Schichten häuften. Und Letbys eigene, düstere Aufzeichnungen, in denen sie über Schuld schrieb.

Fall Lucy Letby: Ein komplizierter Hergang

Der Fall war von Anfang an kompliziert. Es gab keine Zeugen für die ihr zur Last gelegten Verbrechen. Stattdessen musste sich die Staatsanwaltschaft auf medizinisch-technische Beweise stützen – zusammen mit statistischen Daten und verstörenden Details aus ihrem Leben. Die junge Frau bestritt die Taten, wurde jedoch schließlich in zwei Prozessen des Mordes an sieben Babys und des versuchten Mordes an sieben weiteren Kindern für schuldig befunden. Sie erhielt die Höchststrafe: lebenslänglich, ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung.

Doch die Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind seither nicht verstummt. Bereits im vergangenen Jahr drängte eine Gruppe von medizinischen Experten darauf, eine öffentliche Untersuchung zur Reaktion des Krankenhauses auf die angeblichen Morde zu verschieben, da ihrer Meinung nach „alternative, möglicherweise komplexe Ursachen“ für die Todesfälle nicht berücksichtigt worden seien.

Die Criminal Cases Review Commission, eine Organisation, die sich mit der Überprüfung möglicher Fehlurteile befasst, wird nun auf Antrag von Letbys neuer Verteidigung alle Beweise prüfen, um festzustellen, ob der Fall an die Gerichte zurückverwiesen werden soll. Der konservative Abgeordnete David Davis bezeichnete die Verurteilung der jungen Frau im Rahmen der Pressekonferenz in London schon jetzt als „eine der größten Ungerechtigkeiten der modernen Geschichte“.