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Wahlen in GroßbritannienNun soll es Boris Johnson richten

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Wie „Kai aus der Kiste“ stand der britische Ex-Premier plötzlich wieder für die Tories auf der Wahlkampfbühne. dpa

Wie „Kai aus der Kiste“ stand der britische Ex-Premier plötzlich wieder für die Tories auf der Wahlkampfbühne.

Nach 14 Jahren an der Macht droht den Tories eine kräftige Niederlage. Nun soll Ex-Premier Boris Johnson ran. Beobachter werten das als Akt der Verzweiflung.

Susanne Ebner Es war ein Auftritt in letzter Minute. „Boris, Boris“, riefen seine Anhänger, als Boris Johnson am Dienstagabend bei einer Wahlkampfveranstaltung in London die Bühne betrat. Er verstrubbelte sich kurz das hellblonde Haar. Dann ergriff er das Wort und baute eine Drohkulisse vor den britischen Wählerinnen und Wählern auf: „Wenn Sie meinen, dass Sie ein paar Tausend (Pfund) übrig haben, dann wählen Sie Labour“, sagte er in Anspielung auf mögliche Steuererhöhungen der Sozialdemokraten. „Aber wenn sie unsere Wirtschaft schützen wollen, wählen Sie die Tories.“

Dass die Tory-Partei Ex-Premier Boris Johnson als eine Art „Vintage-Boris“, wie es am Dienstag hieß, kurz vor der Wahl noch einmal quasi reaktivierte, obwohl sie ihn 2022 aus der Downing Street gejagt hatte, werten viele als letzten Akt der Verzweiflung. Er habe seine Fans, räumte der britische Journalist Robert Peston ein. „Aber für Millionen britischer Wähler, das zeigen die Umfragen, ist Boris Johnson Gift“ und wecke böse Erinnerungen. Dazu gehörten vor allem die Lügen über die Partys in der Downing Street während der pandemiebedingten Ausgangssperren. Das mache die Menschen in Großbritannien immer noch sehr wütend.

Umfragen sehen die Tories bei 20 Prozent – und Labour bei 40

Wenn die Briten an diesem Donnerstag zu den Urnen schreiten, um ein neues Parlament zu wählen, droht der konservativen Partei unter Premier Rishi Sunak eine herbe Niederlage. Jüngsten Umfragen zufolge kämen die Tories auf rund 20 Prozent der Stimmen, die oppositionelle Labour-Partei auf rund 40 Prozent. Ihr Chef Keir Starmer versprach in seinem Wahlprogramm vor allem eines: Veränderung. Danach sehnen sich viele. „Es ist Zeit für einen Regierungswechsel und für jemanden, der das Land besser führen kann“, äußert Sara Hobolt, Politikwissenschaftlerin an der London School of Economics (LSE) ihre persönliche Meinung zum Zustand des Landes.

Der allgemeine Eindruck der Menschen im Land ist, dass nach mehr als einem Jahrzehnt unter den Tories auch wegen drastischer Sparmaßnahmen nichts mehr funktioniert. Das Gesundheitssystem NHS steht vor dem Kollaps, die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, es fehlt an Wohnraum, Flüsse und Seen sind mit Fäkalien verseucht. Und „auch wenn die Inflation jetzt zurückgeht, haben die Menschen das Gefühl, dass es ihnen unter den Konservativen nicht besser geht“, sagt Hobolt. Selbst unter jenen, die für den Brexit gestimmt haben, herrsche keine große Begeisterung über die vermeintlichen Vorteile des Austritts aus der Europäischen Union.

Starmer setzte auf einen unaufgeregten Wahlkampf. Es gab keine Überraschungen, keine großen Versprechungen. Seine Botschaft: Wer das Chaos beenden will, muss Labour wählen. Probleme wie Kinderarmut und Obdachlosigkeit und das völlig überlastete Gesundheitssystem NHS sprach er an, jedoch ohne zu sagen, wie er sie lösen will. Das rief auch viele Kritiker auf den Plan: „Um einen wirklichen Wandel herbeizuführen, müssen auch konkrete Mittel auf den Tisch gelegt werden. Das Manifest der Labour Party lässt keine Strategie erkennen, woher das Geld für diese Maßnahmen kommen soll“, sagt Paul Johnson, Direktor des Institute for Fiscal Studies.

Starmer wirkte im Wahlkampf oft hölzern, was manche mit seinem späten Einstieg in die Politik begründeten. Der 61-Jährige arbeitete lange als Menschenrechtsanwalt, bevor er im Jahr 2014 als Abgeordneter ins Parlament einzog. 2020 wurde er zum Vorsitzenden der Partei gewählt und versprach diese nach den schwierigen Jahren unter Jeremy Corbyn umzukrempeln. Schließlich kämpfte Labour mit internen Spaltungen, eine Antisemitismusdebatte lähmte die Partei. Zwar profitiere Labour auch von der Frustration der Wähler über die Regierung, wie Tim Bale von der Queen Mary University of London betonte. Doch Starmer habe Labour wieder wählbar gemacht. Wenn er am Donnerstag von Britinnen und Briten zu ihrem neuen Regierungschef gemacht wird, und danach sieht es aus, wäre der 61-Jährige der siebte Labour-Premierminister seit der Gründung der Partei.

Ebenso historisch wie der Sieg der Labour-Partei ist die mögliche Niederlage der Tory-Partei. Diese hatte den größten Teil des 20. Jahrhunderts regiert. Ihr Wiederaufstieg in den 2010er-Jahren in Anschluss an Gordon Brown machte sie, an ihrer Zeit in der Regierung gemessen, zu einer sehr erfolgreichen Partei in der westlichen Welt. Am Donnerstag könnten sogar Sitze, die seit Jahrzehnten als sicher galten, an die Labour-Partei oder die Liberaldemokraten gehen. Darunter auch jener von Liz Truss, der ehemaligen Premierministerin, die im Herbst 2022 nach nur 49 Tagen aus Downing Street Nummer 10 gejagt wurde, nachdem sie die britische Wirtschaft mit ihren Haushaltsplänen ins Chaos gestürzt hatte. Boris Johnson, einer der anderen Hauptverantwortlichen für den Niedergang der Partei, muss sich über diese Entwicklungen und den Niedergang der Tories keine Sorgen machen. Er trat vor etwa einem Jahr als Abgeordneter zurück und verlor seinen Zugang zum Parlament, weil er es über Regelverstöße belogen hatte.

Viele fühlen sich von Kleineren besser vertreten

Die politische Landkarte, die seit Johnsons Erdrutschsieg 2019 und seinem Versprechen, den Brexit duchzuboxen, überwiegend blau war, könnte am Donnerstag damit vor allem rot werden. Den Umfragen zufolge werden neben Labour wohl aber auch kleinere Parteien wie die Liberaldemokraten und die Grünen zulegen. Die Identifikation mit den Konservativen und den Sozialdemokraten ist nicht mehr so stark wie früher, sagt Rob Ford von der Denkfabrik UK in a Changing Europe. Regionen, in denen traditionell Labour gewählt wurde, wie etwa die einst industriell geprägten englischen Midlands, haben sozusagen „ihren Anker verloren“. Wirtschaftlich abgehängt, fühlen sich viele Menschen dort von keiner Partei mehr vertreten.

Ihre Offenheit für kleinere Parteien begründen die Briten aber auch damit, dass sie sich von deren Abgeordneten vor Ort oft besser vertreten fühlen. Davon profitiert auch die rechtspopulistische Partei Reform UK von Nigel Farage. Umfragen sehen sie bei rund 16 Prozent. Farage könnte in seinem Wahlkreis gewinnen und damit ins Parlament einziehen. Allerdings wird Reform seit einigen Tagen von einem Skandal verfolgt. Ein Undercover-Reporter eines Fernsehsenders hatte einen Wahlkämpfer dabei gefilmt, wie er unter anderem sagte, man solle bewaffnete Armeerekruten entsenden, um die an den Stränden landenden Migranten „einfach zu erschießen“.