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Ukraine-KriegEin Besuch im Niemandsland zwischen Ruinen und Artilleriefeuer

Lesezeit 5 Minuten
Serhij Kaljuzhnyj will bleiben: Mit seiner Schubkarre geht er an einer zerstörten Autowaschanlage vorbei.

Serhij Kaljuzhnyj will bleiben: Mit seiner Schubkarre geht er an einer zerstörten Autowaschanlage vorbei. Michael Clasen

Zwischen Charkiw und der ersten Frontlinie gibt es ein Niemandsland. Dort leben nur noch wenige Menschen. Sie fragen sich: Gehen oder bleiben?

Der letzte Checkpoint von Charkiw ist passiert. Hier beginnt das Niemandsland bis zur russischen Grenze, die keine 20 Kilometer entfernt ist. Zwei ukrainische Kampfhubschrauber tauchen plötzlich vor uns auf und fliegen im Tieflug über uns hinweg. Die erste Frontlinie ist nur noch wenige Kilometer entfernt. Zyrkuny und die anderen Dörfer links und rechts der mit Schlaglöchern gepflasterten Straße sind weitgehend zerstört.

Viele Ruinen sind zu sehen. Tankstellen, ein Postgebäude, eine Schule, kleine Wohnhäuser, fast alles ist kaputt. Dazwischen haben sich Einheiten der ukrainischen Armee verschanzt. Eine Artilleriestellung feuert in Richtung der russischen Stellungen. Der Geruch von Pulverdampf zieht herüber.

Doch dieses Niemandsland ist nicht völlig ausgestorben. In ihrem Garten hakt Ljuba Drokina, 67, ihr Kartoffelfeld. Wie lebt es sich zwischen Raketenalarm und heranrückender Front? Sie hätte sich daran gewöhnt, erzählt sie. Sie sei auch während der Okkupationszeit nach Beginn des Krieges 2022 hier geblieben. Monatelang habe sie im Keller gelebt. Die Russen hätten hier schlimm gewütet, bevor sie von der ukrainischen Armee vertrieben worden seien. In zwei Häusern hätten Soldaten gemordet, vergewaltigt und gefoltert, berichtet sie. Letztes Jahr habe sie gedacht, alles werde wieder gut. Da war es so ruhig, sagt sie. Bei den Kämpfen zur Vertreibung der Russen sei in ihrem Garten eine Rakete eingeschlagen. Deshalb sei auch ihr Gewächshaus zerstört. Sie hätte den Krater wieder verfüllt. „Aber schauen sie sich die Erde an“, sagt sie und zeigt auf ihren Kartoffelacker. „Ich hatte früher echte Schwarzerde, jetzt habe ich Braunerde.“

Eine Weinrebe gegen Kuhmist

Zwei Kilometer weiter: Serhij Kaljuzhnyj geht mit seiner Schubkarre an einer zerstörten Autowaschanlage vorbei. Dass gerade Raketenalarm ist, stört den 67-Jährigen nicht. Er sei auf dem Weg zu einem Freund. Er liefere eine Weinrebe und im Gegenzug erhalte er Kuhmist, erzählt Kaljuzhnyj. Er wolle bleiben, seine Frau wolle aber wegziehen. Der Lärm von Artillerie und Kampfhubschraubern würden ihn nicht stören. Sie müssten eben „den Feind töten“.

Warum schickt Russlands Machthaber Wladimir Putin seine Truppen erneut in Richtung Charkiw? Seine erste Offensive war 2022 immerhin dramatisch gescheitert. Nun soll die russische Armee rund 50000 Mann in der Charkiw-Region zusammengezogen haben. Seit mehreren Wochen halten sie kleinere Gebiete auf ukrainischem Boden. Vor allem die Grenzstadt Wowtschansk wird heftig umkämpft. Sie droht dem Erdboden gleich gemacht zu werden.

Wird Putin erneut versuchen, Charkiw einzunehmen? Davon gehen die meisten Militärs nicht aus, weil dafür zu wenig Kräfte zusammengezogen wurden. Vielmehr scheint Moskau drei Ziele zu verfolgen:

- Bindung ukrainischer Kräfte, mit der Folge, dass andere Abschnitte der Ostfront geschwächt werden, was im Übrigen tatsächlich eingetreten ist. Kiew hat teils mit massiven Truppenverlagerungen reagiert, um einen weiteren russischen Vorstoß zu verhindern.

- Putin könnte seine Artillerie besser in Stellung bringen. Wenn er Charkiw schon nicht erobern kann, so könnte er die Stadt unbewohnbar machen und zerstören, befürchtet der ukrainische Generalstab. Der gestiegene Raketenterror unterstützt diese Annahme.

- Schaffung einer Pufferzone, um den Ukrainern Angriffe auf militärische Ziele rund um die russische Stadt Belgorod zu erschweren.

Wie groß die strategische Bedeutung dieses Niemandslandes mit seinen unzähligen Ruinen ist, zeigte sich erst vor wenigen Tagen, als es in Washington und Berlin in Bezug auf die Einsatzregeln westlicher Waffensysteme eine 180-Grad-Wende gab. Erstmals haben US-Präsident Joe Biden und Kanzler Olaf Scholz den Ukrainern erlaubt, mit westlichen Waffen auf militärische Ziele auf russischem Staatsterritorium zu schießen. Moskau sieht darin eine weitere Eskalationsstufe und warnt vor möglichen dramatischen Konsequenzen.

An der Charkiw-Front wird aus ukrainischer Sicht die Notwendigkeit für Angriffe in Russland schnell ersichtlich. Denn die Russen belassen ihre Artillerie, Logistik, elektronische Kampfführung, Raketenwerfer und Versorgungszentren der Truppen auf russischem Boden; nur motorisierte Sturmbrigaden und Infanterieeinheiten sind auf ukrainischen Boden. Hätten die Ukrainer keine Möglichkeit, die feindlichen Einheiten im russischen Hinterland angreifen zu können, dürfte es ihnen sehr schwerfallen, Putins erneuten Angriff abzuwehren und die Russen zum Rückzug zu zwingen.

Zwei Frauen evakuiert

Dass die letzten Einwohner von Lypzi, Zyrkuny und den anderen Dörfern in diesem Niemandsland wieder Opfer dieses schrecklichen Krieges werden, ist ein bitteres Schicksal, das sie mit unzähligen Ukrainern teilen. Hunderttausende Menschen wurden bereits getötet oder verletzt. Millionen Ukrainer sind geflohen, ins Ausland oder nach Kiew und in die Westukraine, wo es derzeit sicherer ist als an den Gebieten an der Ostfront. Nach mehr als 800 Tagen Krieg will das Leid nicht weniger werden.

Plötzlich tauchen zwei ältere Damen unweit der zerstörten Brücke nach Lypzi am Straßenrand auf. Es sind Svitlana Tsyhanenko und Maria Miasojedowa. Sie wollen evakuiert werden und bitten uns um Hilfe. Es gibt keinen Bus mehr. Ein Auto haben sie nicht. Sie wären sonst die rund 15 Kilometer bis zum Stadtrand von Charkiw zu Fuß gelaufen. Beide haben jeweils eine Plastiktasche dabei. Da sei das Nötigste drin, erzählt Maria Miasojedowa. „Letztes Jahr war es hier noch so schön. Wir haben sogar neue Fenster und ein neues Dach von Hilfsorganisationen bekommen. Jetzt wollen wir bei Verwandten in Charkiw Unterschlupf finden“, erzählt sie, während wir an den Ruinen vorbeifahren in Richtung Westen.