Lebensmittelknappheit bei der Tafel: Was das zur Folge hat, berichtet Tafel-Chef Andreas Steppuhn im Interview mit der Rundschau – und räumt dabei mit Vorurteilen auf.
Tafel-Chef Andreas Steppuhn„Armut endlich ernsthaft bekämpfen“
![Die Zahl der Menschen, die bei Tafeln für Lebensmittel anstehen, wächst.](https://static.rundschau-online.de/__images/2024/12/13/380bd537-ed4a-47bc-a598-60295c1d7fa9.jpeg?q=75&q=70&rect=0,0,4000,2250&w=2000&h=1304&fm=jpeg&s=9b9a3ea80e49f476f4d4596f3208d815)
Die Zahl der Menschen, die bei Tafeln für Lebensmittel anstehen, wächst.
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Mit dem Mercedes zur Tafel, um günstig Lebensmittel zu erhalten? Wie das zusammenpassen kann, erklärt Tafel-Chef Andreas Steppuhn im Interview mit Dirk Fisser. Und er gibt Einblick, warum mancherorts die Lebensmittel bei Tafeln knapp werden.
Herr Steppuhn, vielleicht kennen Sie Melle, eine kleine Stadt in Niedersachsen, wie es sie überall in Deutschland gibt. Bei der dortigen Tafel musste die Ausgabe von Lebensmitteln an Bedürftige von zweimal wöchentlich auf alle zwei Wochen reduziert werden – zu viele Anfragen, zu wenige Lebensmittel. Ist Melle überall bei Tafeln?
Die Situation in Melle ist repräsentativ für die Lage vieler Tafeln in Deutschland. Zahlreiche Tafeln sind an ihren Kapazitätsgrenzen angekommen: Ein Drittel versucht, sich mit temporären Aufnahmestopps oder Wartelisten zu helfen, die sie nach Möglichkeit abarbeiten. 60 Prozent der Tafeln müssen die Menge der ausgegebenen Lebensmittel reduzieren. Mit solchen Lösungen versuchen sich Tafeln über Wasser zu halten und gleichzeitig so vielen Menschen wie möglich zu helfen.
Gehen Leute hungrig von der Tafel nach Hause beziehungsweise mit zu wenig Lebensmitteln, um satt zu werden?
Die Tafel ist kein Vollversorger, wir unterstützen zusätzlich mit geretteten Lebensmitteln. Wer weniger bekommt, muss mehr hinzukaufen. Das führt natürlich zu höheren Kosten. Und wir alle wissen, die regelmäßig im Supermarkt einkaufen: Die Lebensmittelpreise sind in den vergangenen Jahren um gut 35 Prozent gestiegen. Das belastet uns alle, aber Menschen mit wenig Geld noch einmal mehr. Um so wichtiger sind die Tafeln für sie.
Also hat die Zahl der Tafelkunden zugenommen?
Seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine verzeichnen die Tafeln im bundesweiten Durchschnitt 50 Prozent mehr Kundinnen und Kunden – sie unterstützen aktuell etwa 1,6 Millionen Armutsbetroffene. Der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes zeigt, dass etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland von Armut bedroht sind. Kämen alle zur Tafel… das könnten wir nicht leisten, wir sind eine ehrenamtliche Organisation, kein Teil des sozialstaatlichen Systems.
Wenn die Tafeln zu wenig Lebensmittel für alle haben, nimmt dann die Aggressivität zu?
Das Leben insgesamt ist teurer geworden und wird weiter teurer: Lebensmittel, Energie, Mieten und so weiter. Dahingegen sind Renten und Löhne nicht im gleichen Maß gestiegen. Dass Menschen mit ihrer Situation nicht zufrieden sind, ist absolut nachvollziehbar. Dazu aber eines ganz klar und deutlich: Wir können nur das verteilen, was an Spenden da ist. Armutsbekämpfung ist Aufgabe der Politik. Tafeln können nicht auffangen und übernehmen, was der Staat seit Jahrzehnten nicht schafft.
Eine weitere Anhebung der Sozialleistungen ist aber nur bedingt populär: Der Vorwurf, Arbeit lohne sich nicht mehr, weil das Bürgergeld zu hoch ausfalle, ist ein anhaltender. Zugleich dürfte die Bereitschaft bei denjenigen, die mit Lohnarbeit den Sozialstaat finanzieren, in Zeiten insgesamt knapper Kassen doch eher gering sein, noch mehr beizutragen, wenn man selbst nicht profitiert.
Die Gesellschaft ist beim Thema Bürgergeld sicher gespalten. Bis in die obere Mittelschicht spüren die Menschen die gestiegenen Belastungen und die wachsende Armutsgefahr. Die demokratischen Parteien müssen Armut endlich ernsthaft bekämpfen und zielführende Maßnahmen erlassen. Für mich steht fest: Es benötigt eine ausfinanzierte Kindergrundsicherung, krisenfeste Löhne, armutsfeste Renten, bezahlbaren Wohnraum – es gibt viele Schrauben, an denen gedreht werden muss. Die vom Kanzler genannte mögliche Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel ist da ein erster wichtiger Schritt. Das Problem Armut löst sie jedoch nicht.
In der Debatte um die Frage, was Armut bedeutet und was nicht, geraten auch die Tafeln selbst immer mal wieder in den Fokus. Die Tafel-Chefin in Neumünster musste kürzlich erklären, warum Tafel-Kunden mit dem Mercedes vorfahren… Sind alle Tafel-Kunden bedürftig?
Es gibt wahrscheinlich Fälle, wo das nicht so ist – wie in anderen Bereichen auch. Das lässt sich nie ausschließen, ist aber kein großes Phänomen, sondern beschränkt sich auf Einzelfälle – die aber natürlich bei den Tafeln vor Ort wahrgenommen werden. Tafeln sind allerdings keine Behörden. Für uns ist zwar maßgeblich, ob jemand zum Beispiel einen Bürgergeldbescheid oder eine niedrige Rente vorweisen kann, jedoch nicht die Frage, welches Auto jemand fährt. Tafeln unterstützen nach Möglichkeit, wer Hilfe benötigt. Wir sollten aufpassen, Armutsbetroffene oder Gruppen generell nicht gegeneinander auszuspielen – das tut einer demokratischen Gesellschaft nicht gut. Menschen, die vor einem Krieg fliehen und ihre Heimat verlassen, müssen nicht unbedingt arm sein. Und dennoch haben sie in Deutschland zu Beginn vermutlich erst mal wenig zur Verfügung.