Beschäftigte im NRW-Handel kämpfen seit acht Monaten für höhere Gehälter. Verdi will den Druck nun weiter erhöhen.
Streiks im NRW-Einzelhandel„Die Angst treibt uns auf die Straße“
Sonja Evertz hat neulich mit ihrem Mann und ihren beiden Enkelkindern einen Tag im Schwimmbad verbracht. „Der Tag hat 80 Euro gekostet“, seufzt die langjährige Ikea-Mitarbeiterin aus Duisburg. „Dafür muss eine Beschäftigte im Einzelhandel einen ganzen Tag arbeiten. Das tut schon weh“, sagt sie. Die sehr persönlichen Schilderungen verdeutlichen die angespannte Lage im Einzelhandel, aber auch im Groß- und Außenhandel in Nordrhein-Westfalen. Beide Branchen befinden sich in einer Tarifauseinandersetzung, die sich wie Gummi zieht.
Mit einem Bruttogehalt von 2832 Euro nach dem sechsten Berufsjahr sind Verkäuferinnen und Verkäufer finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet. Deshalb fordert die Gewerkschaft Verdi in NRW seit April vorigen Jahres deutlich mehr Geld – für 517000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Einzelhandel sowie 306000 im Groß- und Außenhandel. Hinzu kommen gut 200000 geringfügig Beschäftigte.
Gespräche sind abgerissen
2,50 Euro mehr pro Stunde will Verdi bei einer Laufzeit von zwölf Monaten im Einzelhandel durchsetzen. Die Arbeitgeber schlugen im Dezember dagegen eine Erhöhung um 10,1 Prozent bei einer Laufzeit von 24 Monaten vor. Und obendrauf eine Inflationsausgleichsprämie von 1200 Euro. Verdi reichte das bei weitem nicht aus. Seither sind die Gespräche abgerissen.
Bei ihren Gehaltsforderungen geht es den Beschäftigten auch um Wertschätzung und die Attraktivität ihres Berufs. „Die Arbeitsverdichtung wird immer größer“, berichtet Ikea-Mitarbeiterin Sonja Evertz und plaudert aus dem Nähkästchen. In dem Duisburger Möbelhaus liege die Krankenquote bei zehn Prozent. Doppelt so hoch sei die Fluktuation. „Die Leute kündigen, obwohl sie feste Verträge haben. Sie schaffen die Arbeit einfach nicht mehr“, sagt Evertz, die in der Verdi-Tarifkommission für NRW sitzt.
Zu dem Gremium gehört auch Marion Aldorf. Sie arbeitet im Kölner Zentrallager des Gesundheitsdienstleisters Lion Healthcare und findet drastische Worte: „Für uns Beschäftigte geht es um Existenzsicherung und den Kampf gegen Altersarmut“, sagt sie. 60 Prozent arbeiteten in Teilzeit, die meisten von ihnen Frauen. Viele seien alleinerziehend. „Oft kommt noch die Pflege von Angehörigen dazu“, erzählt Aldorf. Und das für Monatsgehälter in Höhe von 1400 oder 1500 Euro für Lagertätigkeiten. „Die Leute haben Angst, ihr Leben nicht mehr finanzieren zu können. Diese Angst treibt uns auf die Straße“, sagt die Gewerkschafterin.
Um ein deutliches Lohnplus für die Beschäftigten herauszuholen, steht der Verdi-Verhandlungskommission seit dem 1. Januar Henrike Eickholt vor. Die Landesfachbereichsleiterin für den Handel ist Nachfolgerin von Silke Zimmer, die im Herbst 2023 in den Verdi-Bundesvorstand aufgestiegen war. „Dass die Arbeitgeber ihre Beschäftigten so im Regen stehen lassen, macht mich wütend“, sagt Eickholt nach einer Sitzung der Tarifkommission in Oberhausen. Der Handel sei ein erfolgreicher Wirtschaftszweig, der seine Beschäftigten aber nicht angemessen an den Gewinnen teilhaben lasse. „Es ist absolut unwürdig, dass vor allem Teilzeitbeschäftigte am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig haben. Durch die hohe Inflation der letzten Jahre klafft ein riesiges Loch im Portemonnaie der Beschäftigten, das mit Blick auf Lebensmittel und Energie nicht kleiner wird“, warnt Eickholt.
Streikbereitschaft bleibt hoch
Die Verdi-Verhandlerin fordert die Arbeitgeber auf, endlich ein Tarifangebot vorzulegen, und macht gleichzeitig klar, dass die Streikbereitschaft nach wie vor hoch sei. Trotz der Repressalien gegen Beschäftigte, die sich an Arbeitsniederlegungen beteiligten. Eickholt spricht von Schadensersatzklagen gegen Verdi, von Prämien für Streikbrecher und von Teilnehmenden an Arbeitsniederlegungen, die man nicht mehr ins Firmengebäude lasse. Sonja Evertz erzählt von Einkaufsgutscheinen, mit denen Ikea versuche, Mitarbeitende bei der Stange zu halten. Einigen sei auch ein halbes Tagesgehalt on top angeboten worden.
Eickholt macht aber auch Sorge, dass sich immer mehr Frust unter den Beschäftigten breit mache. „Die Kolleginnen und Kollegen lesen doch in der Zeitung von den hohen Tarifabschlüssen in anderen Branchen“, sagt die Verdi-Frau im Hinblick auf ordentliche Zuwächse etwa beim Stahl oder im öffentlichen Dienst. Darauf hätten auch die Mitarbeitenden im Handel ein Anrecht. Der Weg zu einem Tarifergebnis scheint aber noch weit zu sein.