Trotz des Wandels von klassischem TV zu digitalen Plattformen glaubt ProSieben-Chef Hannes Hiller noch an die Anziehungskraft des linearen Fernsehens.
Veränderungen im TVProSieben-Chef Hannes Hiller spricht über neue Sehgewohnheiten
Das Fernsehen steckt im Wandel. Immer mehr Nutzer besitzen keinen TV-Apparat mehr und gucken digital: Netflix, Social Media und dann vielleicht noch Fernsehen. Ist das Medium als Lagerfeuer der Nation Geschichte? Hannes Hiller glaubt das nicht. Seit knapp einem Jahr ist er Chef des Privatsenders ProSieben. Wenn Joko und Klaas hier nach ihren Duell-Shows zur Primetime 15 anarchische Minuten senden – ohne redaktionelle Kontrolle, dafür aber mit Überraschungsgarantie –, dann wird lineares Fernsehen auch für junge Leute wieder zum Event.
„Was Joko und Klaas und ihre Produktionsfirma immer wieder an Impulsen und verrückten Ideen liefern, ist für mich einmalig. Natürlich sehen wir, dass es bei dem riesigen Angebot an Entertainment-Inhalten schwieriger wird, die Massen zu begeistern. Aber wir haben immer wieder bewiesen, dass es noch funktioniert, mehrere Generationen bei einer Show vor dem Bildschirm zu versammeln“, sagt Hiller. „Vielleicht brennt das Lagerfeuer ein bisschen kleiner, aber es brennt noch.“ Als nächstes Format, das den Funkenflug befeuern soll, nennt er „Die Superduper Show“ mit Katrin Bauerfeind.
Mit Streamingdienst Joyn viele Zuschauer erreichen
Ist das Smartphone mit all seinen um Aufmerksamkeit konkurrierenden Apps dabei eine gute Plattform fürs Fernsehen? Hiller sieht die App Joyn als Chance, dass sein Programm mit dem Streamingdienst von ProSiebenSat.1 überall verfügbar ist: „Am Ende geht es uns darum, so viele Menschen wie möglich mit unseren Sendungen zu erreichen – ganz egal auf welchem Weg. Und die Zahlen zeigen, dass es funktioniert. Bei Shows wie ‚Germanys next Topmodel’ oder ‚Wer stiehlt mir die Show’ erreichen wir inzwischen einen signifikanten Anteil der Reichweite über Joyn – sie sind ein sehr großer Erfolg im klassischen TV und gleichzeitig die absoluten Reichweitentreiber für unseren Superstreamer.“
Die Nutzung im Streaming wird bei der Produktion inzwischen sogar priorisiert. „Alle großen Programmentscheidungen unserer Gruppe sind auf Joyn ausgerichtet“, hat ProSiebenSat.1 kürzlich als Maxime ausgegeben. Und das verändert auch die Formate. „Früher waren die TV-Quoten das Maß aller Dinge. Heute zählt für uns die Gesamtreichweite über alle Plattformen, um den Erfolg einer Sendung zu beurteilen“, so Hiller. „Das bedeutet ganz konkret, dass wir uns vor jeder Programmentscheidung gemeinsam hinsetzen und überlegen, ob und wie ein neues Format auf Joyn einzahlt.“ Dabei gehe es viel weniger um Besetzungen oder Konzepte, sondern „zum Beispiel viel mehr um eine serielle Erzählweise oder Folgen, die inhaltlich aufeinander aufbauen, um die Kundinnen und Kunden in der App zu halten“.
Eigene Helden für jede Generation
Mit der digitalen Wende kam auch eine Zersplitterung der Zielgruppen. Wer im TikTok-Kosmos ein großer Name ist, kann unter Fußballfans trotzdem völlig unbekannt sein. Thomas Gottschalk hat sich auch deshalb von „Wetten, dass...?“ verabschiedet, weil er die Promis auf dem eigenen Sofa nicht mehr kannte.
Gibt es überhaupt noch Stars, die allen Zuschauern etwas bedeuten? Hannes Hiller ist optimistisch: „Da muss ich direkt an das Taylor-Swift-Konzert Ende Juli in München denken. Haben Sie die Bilder gesehen? Nicht nur das Stadion war voll, der ganze Olympiapark voller Menschen, die zum Teil schon vormittags ihre Zelte aufgeschlagen haben – auch viele Kolleginnen und Kollegen waren dort“, sagt er. „Oder nehmen sie Heidi Klum, die inzwischen generationenübergreifend Massen anspricht. Oder Lukas Podolski. Joko und Klaas wachsen hier auch rein. Vielleicht gibt es nicht mehr so viele generationenübergreifende Stars, aber es gibt sie. Und ist es nicht normal, dass jede Generation ihre eigenen Helden hat?“
Die Helden der jungen Zuschauer hat derzeit jedenfalls ProSieben unter Vertrag. Zum Vergleich: ZDF-Zuschauer sind – Stand 2022 – im Schnitt 65 Jahre alt, die des Ersten ein Jahr jünger. Unter 50, nämlich durchschnittlich 44, ist nur das ProSieben-Publikum. Sind ARD und ZDF überhaupt noch eine Konkurrenz? „Lassen Sie es mich so formulieren: Auch wenn wir bei den jüngeren Zuschauern, den 14- bis 49-Jährigen, gerade im Entertainment häufig die Nase vorn haben: Einmal im Jahr zum ESC-Finale sitze auch ich mit Freunden und Familie vor der ARD.“ Logisch, er selbst ist ja auch längst schon über 50.
Um Konkurrenz muss er sich in der Herbstsaison allerdings trotzdem Sorgen machen; und die stammt sogar aus dem eigenen Haus. Hillers Vorgänger Daniel Rosemann hat sich nach seinem Abschied von ProSieben gerade selbstständig gemacht und, gemeinsam mit dem Namensgeber, die Raab Entertainment GmbH gegründet. Mit Stefan Raab wirbt der einstige ProSieben-Chef dem Nachfolger jetzt frech die Stammzuschauer ab.
Wieso läuft Raabs x-ter Boxkampf gegen Regina Halmich eigentlich auf RTL und nicht auf seinem alten Haussender ProSieben? War Hillers Angebot nicht attraktiv genug? Oder ist Raab nicht mehr attraktiv genug für ProSieben? „Raab ist herausragende ProSieben-Geschichte“, sagt Hiller. „Ein Denkmal. Aber unsere Zukunft sieht anders aus.“