In Deutschland wächst die Kluft zwischen der politischen Mitte und den Rändern. Ein Anfang war vor 14 Jahren Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Aus Anlass seines neuen Buchs haben wir ihn besucht.
Neues Buch erscheintPionier des Rechtsrucks – ein Hausbesuch bei Thilo Sarrazin
Über elf Stufen führt eine niedrige Treppe aus der Küche in den Keller. Im Wandregal lagern Kirschen und Konserven, ein Tischfußball wartet unter einem Schonbezug auf den nächsten Einsatz. Noch eine Tür weiter, dann steht man im Archiv von Thilo Sarrazin.
Zuerst fallen hier die Büsten auf, die enge Familienmitglieder darstellen: den Sohn Robert, die Ehefrau und auch Thilo Sarrazin selbst. Es sind Werke seiner Mutter Mechthild. Die hatte nach Jahren als Hausfrau und Mutter ein zweites Leben als Künstlerin begonnen. Erst die Pflicht, dann die Kür. So ähnlich macht es auch Sarrazin, als er „Deutschland schafft sich ab“ schreibt – und nach dem Leben im Staatsdienst politischer Autor wird.
Thilo Sarrazin: „Ich habe nichts angestoßen“
Sein Werk füllt im Archiv die Regale hinter den Bronzefiguren: Hier sind deutsche und internationale Ausgaben seiner Bücher aufgereiht. Ganz am Ende stehen acht fortlaufend datierte, durchnummerierte Aktenordner. Auf jedem das Etikett: „Dr. Sarrazin. Bürgerecho zum Buch“. Sie enthalten die Leserbriefe zu seinem ersten Buch. Und sie sind Sarrazins Antwort auf die Frage nach seinem Anteil am deutschen Stand der Dinge: an der Migrationsdebatte, an der Polarisierung und dem Erstarken der politischen Ränder. „Ich habe nichts angestoßen“, sagt er. „Ich habe aus einem Reifen, der unter hitzebedingtem Überdruck stand und fast geplatzt wäre, etwas Luft rausgelassen.“
„Deutschland schafft sich ab“ steht am Beginn einer politischen Wende. Als das Buch 2010 erscheint, gibt es noch keine Pegida. Die AfD formiert sich drei Jahre später. Ein Angebot, an der Parteigründung mitzuwirken, habe er abgelehnt. Das hat Sarrazin gerade auf der Pressekonferenz zu seinem neuen Buch erzählt. Die Stimmung aber – das belegen die Leserzuschriften – die war schon da.
Thilo Sarrazins Buch: Zwischen Rambo und Rechtschreibung
Das Buch wurde ein Bestseller und der Autor zur Symbolfigur. Sarrazin hat, wie immer man es bewertet, bei der Verschiebung der Grenzen des Sagbaren Pionierarbeit geleistet. So gewinnt er Anhänger am rechten Rand und eckt in den eigenen Reihen an: Seine Partei, die SPD, schließt ihn nach jahrelangem Ringen aus. Vor dem fünften Buch trennt sich auch sein Verlag von ihm, trotz der Verkaufserfolge. Sarrazin sagt: wegen seiner Islamkritik.
Der einstige Spitzenbeamte steht plötzlich auf der großen Bühne. Wie fand er damals in die neue Rolle? Sarrazin: „In der Naivität eines zahlenorientierten Ministerialbeamten, der sich einfach nur mit den ihm zugänglichen Fakten auseinandersetzt, war ich völlig überrascht, dass ich auf einen derartigen öffentlichen Zuspruch stieß.“
Provokateur und Pedant: Sarrazin ist beides, und das wohl schon immer. Im Keller hängt eine Ehrenurkunde, mit der Kollegen ihn in den 1990ern als „Haushaltsrambo“ würdigen. Unten auf dem Blatt klebt ein kurioser Vermerk zum „§ 333 der Hausformvorschriften“. Den „Rambo“ erklärt Sarrazin damit, dass er schon damals die „Dinge viel härter nach außen vertrat“, als man es im Mainzer Finanzministerium gewohnt war. Und der Paragraf steht für seine offenbar legendäre Korrektheit. Vorlagen mit mehr als drei Rechtschreibfehlern, erzählt Sarrazin, ließ er grundsätzlich zurückgehen.
Thilo Sarrazin und die Zeit, als es „das Deutschland“ noch gab
Auch vor dem Gang in den Keller, beim Interview am Gartentisch, tritt der 79-Jährige nicht als Ideologe oder gar als Charismatiker auf. Karohemd, Cardigan und Sommerhose: Sarrazin trägt den sportlichen Freizeitlook des pensionierten Beamten. Das Alter, nächstes Jahr wird er 80, spürt man am ehesten in den Erzählbögen. Vergnügt schweift er in die 70er und 80er ab, in die gewonnenen Gefechte der frühen Jahre. Und damit wohl auch in eine Zeit, in der es das Deutschland noch gab, für das er kämpft.
Bei der Pressekonferenz zum Buch arbeitete er sich durchs eigene Inhaltsverzeichnis und hatte am Ende leichte Hänger. Im freien Gespräch ist er jetzt reaktionsschnell und zugewandt. Wenn in einer Frage Widerspruch anklingt, kränkt ihn das gar nicht. Sarrazin präsentiert sich als Mann, der auf der Sachebene überzeugen möchte – mit einem Zahlenwerk, an das er seine eigenen Überzeugungen knüpft. Und die haben sich nicht geändert. Der Titel des neuen Buchs sieht Deutschland nur noch auf „der schiefen Bahn“; den Text trägt aber weiter die Sorge vor der Selbstabschaffung. Für Sarrazin besteht die unter anderem darin, dass „kulturelle“ und „ethnische“ Deutsche im eigenen Land zur Minderheit würden. Weil sie weniger Kinder zeugten als Migranten.
Ein demografisches Problem ist für ihn auch die Emanzipation. Wo die weibliche Erwerbstätigkeit die Geburtenrate senkt, fürchtet er um die „Bestandsneutralität“ der Deutschen. Bei Sarrazin klingt das so: „Sieht man den Volkswohlstand über die Zeit hinweg, so kann man durchaus argumentieren, dass eine Frau und Mutter durch die Geburt und die Aufzucht einer Reihe tüchtiger Nachkommen weitaus mehr für den allgemeinen Wohlstand tun kann, als sie es durch einen eigenen Beitrag im Beschäftigungssystem, soweit dieser ganz oder teilweise durch Verzicht auf Nachwuchs erkauft wird, jemals tun könnte.“
Sarrazin zur Verwandlung Deutschlands
Der Autor beklagt auch eine „ethnische und kulturelle Verwandlung Deutschlands durch anhaltende kulturfremde Masseneinwanderung“, vor allem seit der Gastarbeiterpolitik. Er sammelt Statistiken zur Ausländerkriminalität und dem flächendeckenden Leistungsabfall des Landes – vom Pisa-Ergebnis bis hin zur Nationalmannschaft. Und er schreibt Sätze wie diesen: „Ein schwächer und mittelmäßiger werdendes Deutschland muss deshalb im eigenen Interesse umso intensiver dafür Sorge tragen, dass es für die Tüchtigen und Ehrgeizigen ein attraktiver Lebensraum bleibt.“ Brisant sind auch die biologistischen Passagen des Buchs zu ethnischen Fragen, etwa Sarrazins Verknüpfung von Japans Bildungsniveau mit dessen kultureller und ethnischer Homogenität.
Im Interview ist das vielleicht nichts für den Einstieg. Aber – er bringt das Thema sofort selbst auf. Wir beginnen mit der Frage, wie der Gegenwind sein Schreiben geprägt hat. Die „taz“ hatte ihm einst einen Schlaganfall gewünscht und musste 20.000 Euro dafür zahlen. Sarrazins Frau, eine ehemalige Lehrerin, hatte schon an der Haustür berichtet, wie sie im Kollegium unter dem Ruhm ihres Manns litt. In seiner Antwort holt Sarrazin weit aus, von seiner Zeit als politischer Redenschreiber in den 1970ern bis zu den Folien, die er in den Nullerjahren als Berliner Finanzsenator präsentierte. Minuten später landet er dann – als wäre die Karriere nur darauf hinausgelaufen – ungefragt beim Stichwort „Bevölkerungsaustausch“.
Sarrazin: „Dass ein objektiver Bevölkerungsaustausch stattfindet, ist ja völlig klar“
Von dem Terminus grenzt er sich ab, sofern er eine planvolle Politik geheimer Eliten unterstellt. „Das ist eine Verschwörungstheorie. Die teile ich natürlich nicht. Dass aber ein objektiver Bevölkerungsaustausch stattfindet, ist ja völlig klar“, sagt Sarrazin. „Es gibt wunderbare Bilder aus den 50er-, 60er-Jahren, wer so im Kaffee Kranzler sitzt. Und da schauen Sie sich an, wer da heute läuft. Schauen Sie sich einfach den Phänotypus der Menschen an. Dann sehen Sie das.“
Das ist das Frappierende an einem Gespräch mit Sarrazin. Man sitzt mit feinem Kaffeeporzellan im Garten. Die Hortensie blüht, im Zierbaum klettert ein Eichhörnchen. Und mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der er zum Griff in die Keksmischung ermuntert, spricht der Gastgeber dann Sätze von enormer Sprengkraft aus, als wäre es nichts. Ganz ausdrücklich verzichtet er darauf, seine Zitate vor der Veröffentlichung gegenzulesen. So redet ein Mann, der in jedem Wort auf die Rechtschaffenheit des eigenen Arguments vertraut.
Diese Haltung wackelt nur einmal, ganz am Ende des fast dreistündigen Gesprächs. Bei der Frage, ob er einen Zusammenhang zwischen Ethnie und menschlicher Intelligenz sieht, bittet er darum, das Aufnahmegerät auszuschalten. „Ich habe zu Ihnen fast völliges Vertrauen“, erklärt er. „Aber die fünf Prozent fehlendes Vertrauen könnten dazu führen, dass Sie sich veranlasst sehen, bestimmte Dinge einseitig nach vorne zu stellen.“ Den Gedanken, dass es dumme und kluge Völker geben könnte, findet offenbar auch er zu heikel für die Veröffentlichung.
Seine Gedanken zur Genetik hatten 2010 dazu geführt, dass die Buchpremiere von „Deutschland schafft sich ab“ von Demonstrationen begleitet wurde. Auch unaufgeregte Stimmen wie Altkanzler Helmut Schmidt – der Sarrazin damals bescheinigte, vieles Richtige anzusprechen – hatten ihm seine Vererbungsthesen angekreidet. Diesmal verläuft die Pressekonferenz zur Neuerscheinung ruhig. Und das wohl, vermutet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, weil Sarrazin das Thema Genetik jetzt „rundweg meidet“.
Thilo Sarrazin und das ambivalentes Verhältnis zur AfD
Fragt man ihn allerdings danach, dann holt er aus dem Archivregal seine früheren Bücher hervor und zeigt her, was er zum Thema schon alles geschrieben hat. Dann sagt er auch weiterhin, dass Intelligenz im Wesentlichen angeboren und dass es deshalb nicht egal sei, wer die Kinder bekomme. Dann spricht er von Migranten, die „anders“ sind, „auch in ihren genetischen Eigenschaften“. Dann vergleicht er Menschen mit Hunde- und Pferderassen. Und das alles noch in vollkommener Offenheit, bevor wir den Mitschnitt stoppen sollen.
Sarrazin betont seine lauteren Absichten. Aber was ist, wenn andere seine Gedanken zu Demografie und Genetik in Politik umsetzen? Was ist mit den Remigrationsideen des Identitären Martin Sellner? Was ist mit Björn Höcke, der Sarrazins Werk beim AfD-Sommerfest gerade als „epochal“ gelobt hat? Von ihm distanziert sich Sarrazin und wirft ihm seine „rhetorischen Brandsätze“ vor, das Wort vom „Denkmal der Schande“ zum Beispiel: „Das empfinde ich als gefährlich, und es lässt mich auch an seinen guten Absichten zweifeln“, sagt er.
Und die AfD-Chefs? Weidel und Chrupalla hätten sich deutlich gegen die Ausweisung deutscher Staatsbürger oder Menschen mit Daueraufenthaltsrecht ausgesprochen, sagt Sarrazin. „Da mag es innerhalb der AfD auch andere Strömungen geben, aber die Parteivorsitzenden haben sich in diesem Punkt ganz eindeutig geäußert. Und letztlich ist es nicht meine Aufgabe, jeder radikalen Äußerung irgendwo nachzujagen.“ Für das, was seine Bücher auslösen, ist Thilo Sarrazin nicht mehr zuständig. Politik will er nicht mehr machen. Er schreibt nur Bücher über Statistiken.
Thilo Sarrazins Buch „Deutschland auf der schiefen Bahn“ ist im Verlag Langen Müller erschienen.