Knut Giesler, NRW-Chef der IG Metall, pokert derzeit für die Beschäftigten der Stahlbranche unter anderem um die Vier-Tage-Woche.
Interview mit NRW-Chef IG Metall„Wenn wir Arbeitszeit reduzieren, können wir Menschen in Arbeit bringen“
Knut Giesler kann mit dem Lamento über die angeblich wachsende Faulheit der Deutschen nichts anfangen. Der Bezirksleiter der IG Metall NRW verhandelt für mehr als 75000 Beschäftigte in der nordwest- und ostdeutschen Stahlindustrie mit den Arbeitgebern. Die zweite Tarifrunde beginnt am Donnerstag.
Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer fordert aktuell kürzere Arbeitszeiten für Mitarbeiter im Schichtdienst bei gleichzeitigem vollen Lohnausgleich. Hat die GDL Ihre Solidarität?
Meine Solidarität haben die DGB-Gewerkschaften, und dazu gehört die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG und nicht die GDL. Aber die Grundidee ist natürlich nicht verkehrt.
Die Anspielung ist also angekommen...
Als IG Metall haben wir zu Beginn der Tarifrunde für die Beschäftigten der Eisen- und Stahlindustrie neben einer Entgelterhöhung von 8,5 Prozent eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich gefordert. Und das bleibt natürlich auch in der zweiten Runde in dieser Woche auf dem Tisch.
Wie passt das in eine Zeit der wirtschaftlichen Rezession und des Fachkräftemangels?
Das passt sehr gut. Mit dem Wandel zu grün produziertem Stahl und damit verbundenen Technologien wird der Druck auf die Beschäftigung steigen. Und das wollen wir mit einer Arbeitszeitverkürzung kompensieren, denn der technologische Wandel kann ja nicht allein auf dem Rücken der Arbeitnehmer geschehen; dem muss eine soziale Transformation gegenüberstehen, und das bedeutet vor allem Beschäftigungssicherung.
Laut den Stahlarbeitgebern zieht das Argument nicht, weil in den nächsten Jahren ohnehin Tausende Beschäftigte in Rente gehen.
Ich verwehre mich dagegen, dass wir Personalabbau über die Entwicklung der Demografie gestalten und die Stahlbranche immer kleiner werden lassen. Ich möchte mit so viel Menschen aus der Transformation herauskommen, wie wir heute haben. Und was den Fachkräftemangel betrifft: Sobald eine dunkle Wolke am Horizont erscheint, wird zum Teil mit sehr viel Geld Personal abgebaut, im Stahl waren es in den vergangenen drei Jahren 7000 Arbeitsplätze, also acht bis neun Prozent der Beschäftigten. Heute schreien die Arbeitgeber dann um Hilfe. Der Fachkräftemangel ist durch und durch hausgemacht.
Er lässt sich aber nicht wegreden...
Das stimmt, deshalb brauchen wir eine Attraktivitätskampagne, um kluge Köpfe für den Stahl zu gewinnen. Und dazu gehören attraktive Arbeitszeiten. Bundesweit haben wir 2,64 Millionen Menschen in der stillen Reserve, die aus Gründen von schwierigen Arbeitszeiten nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Wenn wir Arbeitszeit reduzieren und dabei noch stärker individuelle Bedürfnisse berücksichtigen, können wir Menschen aus der stillen Reserve in Arbeit bringen. Am Ende ist das doch auch unsere gesellschaftspolitische Aufgabe als Gewerkschaft. Wenn ich Normalarbeitszeit reduziere und den Vollzeitbeschäftigten so mehr Freiraum auch für Sorgearbeit gebe, können mehr Menschen, die im Moment nicht Vollzeit arbeiten können, ins Berufsleben einsteigen.
Was macht Sie optimistisch, dass die Produktivität trotz kürzerer Arbeitszeiten nicht leidet?
Wir haben Erfahrungen aus den vergangenen Jahrzehnten. Jede Arbeitszeitverkürzung ist mit einer erhöhten Produktivität einhergegangen; schon allein deshalb, weil die technische Entwicklung für einen Produktivitätsschub sorgt. Seit über 25 Jahren stellen wir jährlich zwischen 38 und 42 Millionen Tonnen Stahl in Deutschland her; und das mit immer weniger Beschäftigten. Das beantwortet die Produktivitätsfrage ja wohl. Außerdem hat jede Arbeitszeitverkürzung sinkende Krankenstände gebracht, die Menschen bleiben länger gesund – und das ist gerade für Beschäftigte im Schichtdienst, wie wir sie im Stahl haben, wichtig. Angesichts sinkender Rentenniveaus werden künftig mehr Kollegen jenseits der 60 im Schichtdienst arbeiten, das wird aber nur gehen, wenn man Belastung reduziert.
Was halten Sie von einer Debatte über die Leistungsbereitschaft der Deutschen, wie sie CDU-Chef Friedrich Merz angestoßen hat? Auch Ökonomen und Unternehmen mahnen derzeit, Wohlstand müsse erwirtschaftet werden...
Die andauernden Anstöße für mehr Leistungsbereitschaft kommen immer von jenen, die in der privilegierten Lage sind, selbst bestimmen zu können, wo ihre Belastungsgrenzen sind. Das haben Menschen, die im Schichtdienst arbeiten, nicht. Das muss man anerkennen. Wir sind kein Land, in dem sich alle ausruhen. Wir haben hoch verdichtete Arbeitstakte. Das gilt sowohl für den Angestelltenbereich wie für den Produktionsbereich. Die meisten Beschäftigten arbeiten mit einer enormen Leistungsbereitschaft, das sehe ich tagtäglich draußen im Land. Ansonsten wäre unsere Volkswirtschaft doch gar nicht so erfolgreich geworden. Aussagen zur mangelnden Leistungsbereitschaft tragen nur dazu bei, die Gesellschaft stärker zu polarisieren. Der Rechtsruck in der Gesellschaft kommt doch nicht dadurch, dass da plötzlich überall neue Nazis sind.
Sondern?
Da geht es um Menschen, die Angst haben, weil sie entweder wirtschaftlich schon zurückgelassen wurden oder aber abgehängt zu werden drohen. Und da sind wir wieder beim eingangs erwähnten Stichwort soziale Transformation. Wir müssen den Menschen Perspektiven bieten, sichere Arbeitsplätze und die Sicherheit, im Ruhestand vernünftig leben zu können. Das ist eine zentrale Aufgabe von Gewerkschaften. Wenn wir das vergessen, entsteht eine zurückgelassene Gesellschaft, und eine solche neigt zu extremen Fronten, die wir alle nicht wollen.