Seit dem Angriff Russlands sind viele Ukrainer nach Deutschland geflohen. Warum sich das deutsche Integrationssystem so schwertut, erklärt die Professorin für Gesundheits- und Sozialmanagement Manuela Kesselmann.
Familie aufgenommenWas läuft schief bei der Integration von Ukrainern, Frau Kesselmann?
Frau Kesselmann, wie viele Flüchtlinge haben Sie aufgenommen?
Eine fünfköpfige Familie. Zuerst kam Wilma* (72) mit ihren Enkeln Tanja* (12) und Robert* (32) am 3. November 2022 bei uns an. Sie waren aus einem Dorf nahe Cherson geflohen. Nach Weihnachten 2022 kam noch Tanjas Mutter Svetlana* mit ihrer zweiten Tochter Mascha* (6) hinzu.
Wie haben Sie den Moment erlebt, als die Familie bei Ihnen ankam?
Sehr emotional, es flossen einige Tränen. Die Familie war müde und geschafft, aber überglücklich in eine schöne, möblierte Wohnung ziehen zu dürfen. Die ersten sechs Wochen waren wir damit beschäftigt, unsere Gäste zu den Behörden zu begleiten. Im Grunde begannen von da an die Probleme bei der Integration oder besser der Nicht-Integration.
Welche Probleme haben Sie bei den deutschen Ämtern erlebt?
Die Behördengänge sind sehr formal. Es geht in erster Linie um Gesetze und Verordnungen und darum, was jedem Einzelnen an finanzieller Unterstützung zusteht. Die Antragsteller werden serviceorientiert behandelt und mit allerlei Tipps versorgt, wie sie die Sozialleistungen voll ausschöpfen können – Integration war dort kein Thema. So werden falsche Anreize gesetzt.
Wie hat sich das auf die Geflüchteten ausgewirkt?
Die Dankbarkeit hielt etwa sechs Wochen, danach wurden die Begünstigungen durch den Staat als selbstverständlich gesehen. Das ist ein normaler Gewöhnungsprozess – aber Verantwortungsbewusstsein für das Aufnahmeland Deutschland kann so nicht entstehen.
Woran machen Sie das fest?
Ich werde nie vergessen, als Robert das erste Mal etwas von seinen Sozialleistungen am Geldautomaten abhob: „Das ist ja toll, man steckt die Karte rein und schon kommt Geld raus“, sagte er ungläubig. Ein Bewusstsein, wo das Geld herkommt, dass der Nachbar, die Verkäuferin im Supermarkt, der Busfahrer einen Beitrag dafür geleistet haben, war einfach nicht vorhanden. Auch die gesellschaftliche Spannung, die sich rund um das Thema Migration hierzulande aufgebaut hat, war für ihn weit weg. Noch schwieriger war es bei Svetlana.
Aus welchen Gründen?
Sie wurde auch vom Jobcenter betreut, fiel im Sprachkurs durch und war danach orientierungslos. Als wir ihr anboten, bei einem älteren Ehepaar als Haushaltshilfe anzufangen, war Svetlana zunächst interessiert, bis sie erfuhr, dass sie monatlich 100 Euro des Verdienstes ohne Abzüge behalten könne, jeder weitere Euro aber mit ihrem Bürgergeld verrechnet werde. „Wenn ich was abgeben muss, dann mache ich das nicht“, sagte sie nur. Wir waren einfach nur fassungslos.
Nun lässt sich die große Zahl arbeitsloser ukrainischer Flüchtlinge nicht einfach nur mit dem Bürgergeld erklären.
Richtig, das starre Integrationssystem der Behörden verschlechtert die Situation zusätzlich. Wir hatten eine ukrainische Friseurin, der ich erzählte, dass unser örtlicher Friseur dringend Personal sucht. Sie meinte, sie könne dort nicht arbeiten, weil sie gerade beim Jobcenter eine Umschulung zur Paketbotin mache. Dabei wusste sie selbst nicht, ob sie den Job überhaupt machen wolle. Das hat mich sprachlos gemacht.
Wir brauchen in Deutschland händeringend Fachkräfte! Friseure, Pfleger oder Servicepersonal sind nur ein paar Beispiele. Und eine Vielzahl der notwendigen Tätigkeiten ist auch ohne gute Deutschkenntnisse machbar.
Fehlende Arbeitsanreize und starre Bürokratie sind das eine – viele Ukrainer gelten durch die Flucht als traumatisiert und nicht belastbar genug, um zu arbeiten.
Bei schwersten Traumata stimme ich Ihnen zu, aber zu oft wird Geflüchteten von Amtswegen zu wenig zugetraut. Wir müssen raus aus der Sozialromantik, raus aus der Vorstellung für diese Menschen absolut alles regeln zu müssen. Integration durch Mithilfe in unserer Gesellschaft steht nicht im Widerspruch zu psychischer Belastung – ganz im Gegenteil.
In den ersten Monaten, in denen Robert auf einen freien Platz im Deutschkurs warten musste, haben wir ihn in unserer Pferdehaltung eingebunden. Er war dankbar, denn es gab ihm das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Er wirkte durch die Arbeit mit den Tieren gelöst und glücklich. Und weil er in Deutschland bleiben wollte, bemühte er sich sehr, Deutsch zu lernen. Die behördlichen Sprachkurse haben allerdings viele Probleme.
Zum Beispiel?
Laut Robert war nur etwa die Hälfte der Teilnehmer in seinem Kurs engagiert bei der Sache. Der Rest habe den Sprachkurs nur abgesessen, weil er verpflichtend sei. In den vom Jobcenter finanzierten Integrationskursen wird nur geschichtspolitisches Wissen über Deutschland vermittelt. Das reicht nicht. Die eigentlichen Integrationsthemen, wie Gespräche über gesellschaftliche Probleme und deren Lösung fehlen – ebenso, wie die Beteiligung von Bürgern und lokalen Firmen.
Denken Sie, es würde die Integration beschleunigen, wenn Mitbürger und Unternehmen in den Sprachkursen aufkreuzen?
Absolut, wir brauchen einen gemeinsamen Dialog, von Anfang an. Am besten wäre es, wenn Firmen und Initiativen, bereits in den Unterbringungsstätten direkten Kontakt aufbauen. So könnten gemischte Teams aus Einheimischen und Geflüchteten Hilfsprojekte für ihre Gemeinde umsetzten. Es geht darum, sofort eine Kultur nach dem Motto „Wir helfen dir und du hilfst uns“, zu etablieren. Durch dieses Miteinander auf Augenhöhe lernen Flüchtlinge schneller Deutsch und können ein Gefühl entwickeln, Teil unserer Gesellschaft zu sein.
Selbst mit diesen Maßnahmen könnten viele Ukrainer dennoch denken, dass es sich nicht lohnt, Deutsch zu lernen – etwa aus Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Hause.
Deswegen sollten Sozialleistungen direkt an den Fortschritt beim Spracherwerb gekoppelt werden – unabhängig vom Alter. Dass ein Flüchtling zurück in seine Heimat will, ist kein Grund, die deutsche Sprache nicht zu erlernen, wenn er zugleich in einer sicheren Umgebung Unterstützung erfahren möchte.
Wenn die Integrationsarbeit der Behörden teilweise so fehlgeleitet ist, was wäre eine gute Alternative?
Wir sollten mehr auf Paten für Flüchtlinge in den Gemeinden setzen, die Behördengänge begleiten, beruflichen Kontakte vermitteln und auch mal unsinnige Umschulungen verhindern. So wie im Fall der ukrainischen Friseurin? Ja, aber auch bei engagierten Flüchtlingen wie Robert. Statt Monate auf einen weiterführenden Deutschkurs zu warten, haben wir ihn ermutigt, direkt nach einem Job zu suchen. Wir konnten Robert innerhalb weniger Tage an eine Firma im Ort vermitteln und seit Januar 2024 arbeitet er – ein gelernter Jurist – Vollzeit in einem Logistikzentrum.
Trotz Ihrer durchwachsenen Erfahrungen sowohl mit Behörden als auch mit Flüchtlingen setzen Sie sich umso mehr dafür ein, dass Integration stärker auf die lokale und persönliche Ebene verlagert wird. Warum?
Integration hat in erster Linie mit der inneren Haltung zu tun. Jeder einzelne deutsche Bürger ist hier ebenso gefordert, wie die Geflüchteten. Die Behörden sind schlicht überlastet, sie sollten bei der Integration eher flankierend unterstützen, die Zivilgesellschaft mit einbinden und die Selbstverantwortung der Geflüchteten fördern. Letztlich geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch darum Menschen, die innerlich aus unserer Gesellschaft ausgestiegen sind, zu integrieren. Nur so werden wir zu einer wertschätzenden Gemeinschaft, die zukunftsfähig und krisensicher ist.
*Namen von der Redaktion geändert