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Massenflucht nach SyrienWie Assad die Flüchtlingskrise im Libanon für politische Zwecke nutzt

Lesezeit 4 Minuten
Libanon, Sidon: Menschen, die am Montag vor den anhaltenden israelischen Luftangriffen aus den südlichen Dörfern geflohen sind, sitzen in ihren Autos, während sie auf einer Autobahn, die nach Beirut führt, in der Hafenstadt Sidon im Stau stehen.

Libanon, Sidon: Menschen, die am Montag vor den anhaltenden israelischen Luftangriffen aus den südlichen Dörfern geflohen sind, sitzen in ihren Autos, während sie auf einer Autobahn, die nach Beirut führt, in der Hafenstadt Sidon im Stau stehen.

Die israelischen Luftangriffe auf den Libanon lösen eine Massenflucht nach Syrien aus. Assad reagiert mit Offenheit und wirbt für das sichere Syrien.

Sie packen das Nötigste in ihre Autos und machen sich auf den Weg: Zehntausende Menschen fliehen vor den israelischen Luftangriffen im Süden und Osten des Libanon. Viele wollen in die Hauptstadt Beirut, andere fahren über die Grenze nach Syrien – das Bürgerkriegsland, aus dem Millionen Menschen geflohen sind, nimmt jetzt selbst Flüchtlinge auf. Für Machthaber Bashar al-Assad ist die Krise beim Nachbarn Libanon eine Chance. Erst vor wenigen Tagen hatte er eine Amnestie erlassen, um Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen. Jetzt will er zeigen, dass die von ihm beherrschten Teile Syriens sicher sind.

Bei den israelischen Luftangriffen auf Stellungen der Hisbollah-Miliz im Libanon waren am Montag fast 500 Menschen getötet worden; seit dem Ende des Bürgerkrieges vor 34 Jahren kamen dort an einem einzigen Tag nicht mehr so viele Menschen ums Leben. Unter den Opfern seien Frauen, Kinder und Rettungssanitäter, wie die Regierung in Beirut mitteilte. Zeitweise habe es mehr als 80 Einschläge innerhalb einer halben Stunde gegeben, meldete die libanesische Nachrichtenagentur NNA.

Am Montag waren vor allem Ziele im Süden des Landes und im Bekaa-Tal weiter nördlich getroffen worden. Bilder libanesischer Medien zeigten brennende Krankenwagen. Tel Aviv warf der Hisbollah vor, Raketenwerfer in zivilen Wohnhäusern stationiert zu haben.

Israels Luftwaffe begann am Dienstag mit neuen Bombardements. Die Hisbollah teilte mit, sie habe als Antwort wie in den Tagen zuvor israelische Militäreinrichtungen mit Raketen beschossen. Israels Armee zählte über 50 Hisbollah-Geschosse, von denen die meisten abgefangen worden seien. Die Schiiten-Miliz verfügt trotz der Verluste der vergangenen Tage noch über tausende Raketen und Drohnen. Viele Raketen der Miliz haben allerdings eine Reichweite von weniger als zehn Kilometern.

Mehrere zehntausend Menschen mussten nach UN-Angaben seit Montag ihre Häuser verlassen. Die Zahl der Flüchtlinge wuchs demnach auch am Dienstag weiter an. Die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die ein Netz von Informanten in Syrien unterhält, berichtete von einem „Massen-Exodus“ aus dem Libanon. An den Grenzübergängen zu Syrien stauten sich demnach die Fahrzeuge. Ziele der Flüchtlinge seien die Hauptstadt Damaskus im Süden sowie die Städte Tartus, Homs und Al-Kisir nahe der Nordgrenze des Libanon.

Zunächst war nicht bekannt, ob vor sich vor allem syrische Flüchtlinge im Libanon auf den Weg zurück in ihre Heimat machten. Vor Ausbruch der jüngsten Krise lebten rund 1,5 Millionen Syrer im kleinen Nachbarland. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR waren rund 30000 von ihnen grundsätzlich bereit, nach Syrien heimzukehren.

Amnestie für Rückkehrwillige kurz vor Beginn der Luftangriffe

Assads Regierung lässt die Flüchtlinge offenbar ohne größere Schwierigkeiten ins Land. Der syrische Staatschef hat sich bisher aus dem Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah herausgehalten, obwohl er im Bürgerkrieg die Hilfe von Hisbollah-Kämpfern erhalten hatte. Syrien gehört wie die Hisbollah und die Hamas im Gazastreifen zur „Achse des Widerstands“, einem Bündnis aus anti-israelischen und anti-amerikanischen Gruppen und Regierungen unter Führung des Iran.

Kurz vor den jüngsten israelischen Luftangriffen im Libanon hatte Assad eine Amnestie für rückkehrwillige Syrer erlassen. Der Staat verzichtet demnach laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Sana auf die Bestrafung von Bürgern, die ihren Wehrdienst nicht abgeleistet haben und deshalb offiziell als Deserteure gelten. Ähnliche Amnestien hatte es bereits in den vergangenen Jahren gegeben.

Syriens nördlicher Nachbar Türkei, der in den vergangenen Jahren mehr als drei Millionen vor dem Bürgerkrieg geflüchtete Menschen aufgenommen hat, bemüht sich derzeit um eine Wiederannäherung an Assads Regime, um Flüchtlinge nach Hause schicken zu können. Auch einige EU-Staaten drängen auf die Rückkehr von Syrern aus Europa in ihr Heimatland. Syrien hatte dem UNHCR voriges Jahr zugesagt, die freiwillige Heimkehr von Flüchtlingen aus dem Ausland zu erleichtern.

Assad will nach Einschätzung von Osman Bahadir Dincer von der Bonner Denkfabrik Bicc sein internationales Ansehen verbessern, die Normalisierung mit anderen Staaten vorantreiben und der syrischen Wirtschaft aus der Krise helfen. „Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Amnestie allein zu einer massenhaften Rückkehr von Geflüchteten führt, weder aus der Türkei noch aus Europa“, sagte Dincer im Gespräch mit unserer Redaktion. Die meisten Syrer im Ausland misstrauten Assads Amnestien. Menschenrechtsorganisationen berichten bereits seit längerem, dass Heimkehrer in Syrien von Polizei und Geheimdienst verfolgt, festgenommen, gefoltert und getötet worden seien.

Die Fluchtwelle aus dem Libanon gibt Assad nun die Möglichkeit, der internationalen Gemeinschaft gegenüber zu behaupten, dass eine Rückkehr nach Syrien angeblich ohne Gefahr möglich ist. An den fünf Grenzübergängen vom Libanon herrschte am Dienstag weiter Hochbetrieb, wie die US-Organisation Liveuamap bestätigte. Die Gruppierung, die auf ihrer Informationsseite im Netz internationale Krisen analysiert, berichtete über die Lage am Grenzposten Al-Masnaa, dem größten Übergang zwischen dem Libanon und Syrien: Dort gebe es einen „massiven“ Andrang von Vertriebenen.