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Interview

Landkreis-Präsident Sager
„Etliche Gemeinden sind mit der Migration überfordert“

Lesezeit 5 Minuten
Geflüchtete in einem Containerdorf

Geflüchtete in einem Containerdorf

Trotz zuletzt rückläufiger Zahlen sehen sich Deutschlands Landkreise von der Migrationskrise überfordert. Ihr Präsident Reinhard Sager wirft Scholz vor, die Gemeinden im Stich zu lassen. Und er stellt eine harte Frage.

Die Ampel-Regierung erklärt die Flüchtlingskrise quasi schon für überwunden. Innenministerin Nancy Faeser und Kanzler Olaf Scholz loben sich für die sinkende Zahl von Neuankömmlingen. Den Präsidenten von Deutschlands 294 Landkreisen, Reinhard Sager von der CDU, macht das ziemlich fassungslos. Im Interview mit unserer Redaktion macht der 65-Jährige seinem Ampel-Frust Luft.

Herr Sager, die Zahl neuer Asylbewerber ist seit Jahresbeginn deutlich zurückgegangen, was Sie ja immer wieder gefordert haben. Sind Sie also mal zufrieden mit der Ampel-Regierung?

Ganz und gar nicht! Die endlich wieder eingeführten, sporadischen Kontrollen an den Grenzen im Osten und Süden, die der Bund erst sehr spät und auf kommunalen Druck hin vorgenommen hat, haben womöglich für weniger Neuankünfte gesorgt. Aber nennenswert sind die Zahlen nicht gesunken, eine echte Trendwende ist nicht absehbar. Außerdem gehen im Winter die Zahlen immer zurück. Und etliche Landkreise und Gemeinden sind mit der regulären und irregulären Migration überfordert. Die Integration all der Menschen ist nicht mehr möglich. Die Probleme werden immer größer.

Auch die Erleichterung von Abschiebungen sowie die jüngsten EU-Beschlüsse zur Einrichtung von Flüchtlingslagern an den europäischen Außengrenzen reichen den Landkreisen nicht?

Auffanglager an den EU-Außengrenzen sind nicht schön, aber unabdingbar, um Schleppern und Schleusern das Handwerk zu legen. Dort können Verfahren auch im Interesse der Flüchtlinge selbst zügig durchgeführt werden. Allerdings dauert die Umsetzung der Beschlüsse noch viele Monate, wenn nicht Jahre. Die Verlängerung der Abschiebehaft und die Kontrollen an den deutschen Grenzen sind sehr zu begrüßen, reichen aber bei Weitem nicht: Wenn die Bundespolizei irreguläre Migranten auf deutschem Boden aufgreift, werden sie nicht zurückgebracht, sondern bleiben im Land. Teils für immer, weil Abschiebungen auch nach der Asylreform von Bund und Ländern kaum zunehmen werden. Die Ankündigung von Kanzler Olaf Scholz vom Herbst, der Staat werde „endlich in großem Stil abschieben“, war nichts anderes als eine Beruhigungspille mit bitterem Nachgeschmack, weil sie nicht wirkt.

Grenzkontrollen, Auffanglager und leichtere Abschiebungen, all das geht Ihnen nicht weit genug?

Was mich persönlich mit ganz großer Sorge umtreibt: Längst nicht alle Flüchtlinge, die vor acht, neun Jahren gekommen sind, sind integriert oder in Arbeit. Und seit 2021 und dann nochmal seit dem Beginn des Ukraine-Krieges sind viele Hunderttausende weitere Menschen zu uns gekommen. Längst nicht alle Menschen aus allen Ländern suchen Schutz, viele wünschen sich ein besseres Leben oder wollen nicht zum Kriegsdienst herangezogen werden. Für Unterbringung, Betreuung und Sprachkurse fehlen den Kommunen Wohnungen, Personal, Ehrenamtliche und Geld. Kanzler Olaf Scholz hat die Finanzierung zusammengekürzt, allein für die zurückliegenden zwei Jahre fehlen den Landkreisen und Städten fünf Milliarden Euro bei den Unterkunftskosten. Für die Landkreise ist deswegen völlig klar: Wenn die Zahl der Flüchtlinge nicht schnell deutlich und dauerhaft zurückgeht, werden die Probleme immer größer, und das wird sich rächen. Nicht allein, aber auch im immer größeren Zuspruch für die AfD.

Wird die Bezahlkarte für Asylbewerber etwas bringen?

Ich bin froh, dass sie kommt. Wir bieten den Menschen eine Bleibe und versorgen sie umfänglich, aber wir geben ihnen weniger Bargeld, das in die Heimat oder an Schlepper geschickt werden kann. Das vereinfacht auch die Verwaltung, und es ist ein psychologisches Signal an die eigene Bevölkerung. Dass die Geldkarte Menschen davon abschreckt, zu uns zu kommen, glaube ich eher nicht.

Dann ist das eher Symbolpolitik?

Für die Landkreise ist die Geldkarte ein wichtiger Beitrag. Sie muss jetzt in den kommenden Monaten bundesweit und einheitlich eingeführt werden, damit dieses wichtige Signal nicht verpufft. Wenn die Umsetzung bis Ende des Jahres dauert, wäre das viel zu lange.

Was könnte noch für sinkende Flüchtlingszahlen sorgen?

Die Leistungen für Asylbewerber von 460 Euro pro Monat können wohl nicht weiter gekürzt werden. Wir bräuchten hier eine europäische Harmonisierung. Aber Bürgergeld in Höhe von 563 Euro plus Unterkunftskosten für Flüchtlinge aus der Ukraine – das ist für viele Herkunftsländer sehr viel. Die Landkreise fordern daher mit Nachdruck, Neuankömmlingen aus der Ukraine nicht länger automatisch Bürgergeld zu zahlen, sondern sie wie Asylbewerber aus anderen Ländern zu behandeln. Und wir stellen bei aller wichtigen Solidarität mit der Ukraine die Frage, ob so viele Menschen aus dem von Russland angegriffenen Land zu uns kommen müssen. Allein Baden-Württemberg beherbergt doppelt so viele ukrainische Geflüchtete wie ganz Frankreich. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat einst über wetterfeste Unterkünfte im sicheren Westen der Ukraine gesprochen. Vielleicht wäre auch Polen bereit, mehr ukrainische Geflüchtete aufzunehmen, wenn es Unterstützung von der EU gibt. Das sollte die Bundesregierung dringend angehen, anstatt so zu tun, als sei die Flüchtlingskrise längst gelöst.

Fürchten Sie nicht, durch Ihre Klagen über zu viele Flüchtlinge die Rechtspopulisten und Asylgegner immer stärker zu machen?

Ganz im Gegenteil: Wir dürfen das Migrationsthema nicht den Rechtspopulisten überlassen. Die Bundesregierung muss hier mehr für Landkreise und Gemeinden tun. Klar schmückt sich die Innenministerin gerade aktuell mit leicht sinkenden Zahlen, aber zur Wahrheit gehört: Deutschland hat gar keinen genauen Überblick darüber, wer wirklich hier ist und zu uns kommt. Die Zuwanderung findet zum Teil noch zu ungeordnet statt, an den Grenzen gibt es nur Stichproben. Wir gehen davon aus, dass eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen nicht erfasst ist.

Was schlagen Sie vor?

Wir Landkreise fordern deswegen einen konsequenten Schutz der deutschen Grenzen, solange die EU-Außengrenzen so löchrig sind. Es braucht mehr und verstetigte Kontrollen, um irreguläre Migranten ohne Asylschutz-Perspektive an der Einreise zu hindern. Dafür brauchen wir auch eine politische Debatte über eine Größenordnung, weil wir deutlich über 300000 Menschen im Jahr nicht bewältigen können. Das muss man nicht Obergrenze nennen, aber die Beschreibung einer Dimension des Leistbaren ist erforderlich.