Lars Klingbeil sieht den Dauerstreit in der Bundesregierung als einen Grund für die Verunsicherung vieler Menschen. Der SPD-Chef nimmt Stellung zu Kritik – und lobt die Demos gegen Extremismus.
Interview mit Lars KlingbeilIst die Ampel schuld am Erstarken der AfD?
Im Kontext von erneut zahlreichen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus startet die SPD am Sonntag in den Europawahlkampf. Was hat die in Umfragen schwächelnde Partei der AfD entgegenzusetzen? Und ist es in Ordnung, bei den Demos die Deutschland-Flagge zu schwenken? Darüber spricht SPD-Chef Lars Klingbeil im Interview mit Tobias Schmidt.
Herr Klingbeil, die Menschen gehen auch an diesem Wochenende wieder zu Hunderttausenden auf die Straße. Sind das Demonstrationen gegen rechts, gegen Rechtsextremismus, wie nehmen Sie das wahr?
Ich finde es sehr ermutigend, dass ein Ruck durch die Mitte des Landes geht und die Leute aufstehen und sagen: Wir gehen auf die Straße für die Demokratie, für unser Land, für das Miteinander, das wir erhalten wollen, und das lassen wir uns nicht kaputtmachen. Ich finde es wichtig, dass alle demokratischen Parteien diesen Protest der Mitte unterstützen. Auch ein ordentlicher Konservativer ist auf diesen Demonstrationen unbedingt willkommen.
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CSU-Chef Markus Söder schwärmt schon von einem neuen Deutschland-Gefühl. Ist es okay, auf den Anti-Rechtsextremismus-Demos eine deutsche Flagge zu schwenken?
Warum nicht? Auf den Straßen wird das Grundgesetz gegen die Feinde der Demokratie verteidigt. Wir sind mehr. Wir sind stärker. Bei den Demonstrationen geht es um das Bekenntnis zu einem freien und freundlichen Deutschland, das wir lieben und das die AfD hasst. Ich habe null Probleme damit, wenn jemand dieses Bekenntnis zur Demokratie, zu Freiheit und zum Grundgesetz auch zeigen will.
Die AfD wirft den Ampel-Parteien vor, die Demos politisch auszunutzen. Tun Sie das nicht?
Ich verstehe den Vorwurf nicht. Es gibt von der AfD keine Distanzierung dazu, dass Parteimitglieder bei einem Geheimtreffen über rechtsextreme Deportations-Pläne geredet haben. Dass Deutsche, die das Land in den letzten Jahren stark gemacht haben, rausgeworfen werden sollen. Die Pläne wurden von der AfD-Spitze sogar verteidigt und bekräftigt. Dass die AfD dann verbal gegen die Demonstrationen schießt, überrascht mich nicht. Das zeigt ja gerade, wofür diese Partei steht.
Bei den Protesten wird auch Enttäuschung über die Ampel laut, sie habe die AfD durch ihren Streit und ihre dauernde Selbstbeschäftigung erst stark gemacht. Sind die Demos also – wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier findet – auch ein Weckruf für die Regierung?
Es gibt viele Gründe für das Erstarken der extremen Rechten. Die vielen gleichzeitigen Krisen verunsichern die Menschen. Die Regierung hat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Enormes geleistet, um das Land gut durch die schwere Zeit zu steuern. Aber ja, es gab danach auch zu viel Streit, über das Heizungsgesetz, über die Kindergrundsicherung… Und das hat leider auch zur Verunsicherung beigetragen. Kann das eine Rechtfertigung sein, eine rechtsextreme Partei zu wählen? Nein. Stimmt es, dass wir weniger streiten und besser darin werden müssen, Vertrauen zurückzugewinnen? Ja.
Warum nennen Sie die Pläne von Finanzminister Christian Lindner (FDP), nach dem Kindergeld auch die Kinderfreibeträge deutlich zu erhöhen, dann „ungerecht“?
Wir haben wochenlang um eine Lösung für den Haushalt gerungen und hin und her überlegt, wie wir die fehlenden Mittel ausgleichen. Dann gibt es einen Kompromiss, und wenige Tage später verkündet der Finanzminister, dass er die Kinderfreibeträge zusätzlich erhöhen möchte, wovon nur Familien mit sehr hohen Einkommen profitieren. In einer Zeit, in der viele Familien die Inflation der letzten Jahre immer noch spüren und jeden Cent umdrehen, halte ich das für kein gutes Signal.
Sind höhere Kinderfreibeträge wirklich ungerecht?
In Zeiten knapper Haushalte sollte die arbeitende Mitte im Fokus von Entlastungen stehen. Das habe ich deutlich gemacht.
Bei der Anhebung der Freibeträge würde ein Alleinverdiener mit einem Kind ab einem Bruttoeinkommen von 62151 Euro weniger Steuern zahlen müssen, bei einem Ehepaar mit 2 Kindern ab 110000 Euro. Ist das nicht die „Mitte der Gesellschaft“, die auch die SPD entlasten möchte?
Es wäre richtig, Kindergeld und Kinderfreibeträge zu erhöhen. Da habe ich gar kein Problem mit. Aber jetzt zu sagen, ich lege nur bei denen mit höherem Einkommen zusätzlich eine Schippe drauf, wäre ein Fehler. Auch, weil wir uns in der Koalition darauf verständigt haben, dass die Lücke zwischen Kinderfreibetrag und Kindergeld geringer werden soll.
Wie geht der Konflikt aus?
Die Regierung wird einen Vorschlag machen.
Am Sonntag startet die SPD mit ihrer Delegiertenversammlung in den Europawahlkampf. Mit welchen, sagen wir mal zwei Botschaften, wollen Sie die Menschen im Juni dazu bringen, ihr Kreuz bei der SPD zu machen?
Botschaft eins: Wir haben mit Katarina Barley eine erfahrene Spitzenkandidatin mit hohem Vertrauen in der Bevölkerung. Sie ist mit vollem Herzen Europäerin. Botschaft zwei: Kein anderes Land profitiert von Europa so stark wie Deutschland. Jeder fünfte Job in Deutschland hängt von Europa ab. Wir kämpfen dafür, dass das so bleibt, und wollen sogar noch mehr. Durch eine gemeinsame Industriepolitik, eine gemeinsame Energiepolitik und Investitionen. Wir sind damit das Gegenmodell zu den Plänen der Rechtsextremen. Die AfD will raus aus der Europäischen Union und damit Hunderttausende Arbeitsplätze in diesem Land vernichten. Das würde Deutschland isolieren und verzwergen.
Der Europawahlkampf wird ein Kampf gegen die extreme Rechte?
Der Europawahlkampf wird ein Wahlkampf für wirtschaftliche Stärke, eine starke Industrie und viele Arbeitsplätze, die wir hier schaffen können. Wir wollen, dass Europa das Leben der Menschen durch mehr Zusammenarbeit besser macht. Die AfD will das alles nicht. Wer Europa schwächt, raubt uns Zukunftschancen, weil wir dann mit den USA, mit China oder auch mit Indien nicht mehr lange mithalten können.