Seit Ende der Pandemie steigt die Zahl der angezeigten Übergriffe von Schülern stark an – auch in NRW. Experten warnen jedoch vor falschen Schlussfolgerungen. Wir haben mit einer gesprochen.
Expertin gibt AntwortenIst die Gewalt an den Schulen auf dem Vormarsch?
An Deutschlands Schulen fliegen immer häufiger die Fäuste. Das geht aus den polizeilichen Kriminalstatistiken hervor. Wie aussagekräftig sind diese Zahlen? Darüber sprach Ankea Janßen mit Sören Kliem. Der Professor für Sozialwissenschaften an der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena forscht seit vielen Jahren zu Jugendgewalt und kommt zu anderen Erkenntnissen.
Blickt man auf die Zahlen der Behörden zu Gewalt an Schulen, nehmen Delikte bundesweit zu. Was ist los an den Schulen?
Ich stelle grundsätzlich erst einmal infrage, ob es wirklich so ist, dass Gewalt an Schulen zunimmt. Wir müssen unterscheiden, auf welcher Datengrundlage diese Aussagen getroffen werden. Da gibt es zum einen die Polizeiliche Kriminalstatistik, das ist eine sogenannte Hellfeldstatistik.
Warum ist das problematisch?
In diesen Statistiken tauchen alle Fälle auf, die polizeilich in irgendeiner Form erfasst wurden. Bei Hellfeldstatistiken kann es aber zu Verzerrungen kommen, etwa, wenn wir das Phänomen haben, dass die Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung steigt. Mal angenommen, im Jahr 2012 war die Anzeigebereitschaft niedriger als 2014. Dann steigen die im Hellfeld erfassten Zahlen der Kriminalitätsbelastung automatisch an und es sieht so aus, als ob ein bestimmtes Phänomen häufiger werden würde. In Wahrheit wurde es aber nur häufiger angezeigt. Eine weitere Einschränkung gibt es, wenn die Polizei gerade einen bestimmten Ermittlungsfokus gesetzt hat. Ein Beispiel: Im kommenden Quartal soll Drogenkriminalität in Parkanlagen aufgedeckt und gesondert gefahndet werden. Automatisch steigt die Zahl von polizeilich bekannt gewordenen Drogendelikten im Hellfeld massiv an. Die eigentliche Ursache dafür ist aber nur der anders gesetzte Ermittlungsschwerpunkt.
Welche Zahlen sind denn geeignet und belastbar, wenn es um Gewalt an Schulen geht?
Wir brauchen das Dunkelfeld. Das ist sozusagen der Bereich, in dem auch die Straftaten auftauchen, die polizeilich gar nicht bekannt werden. Fast alle Morde tauchen im Hellfeld auf, aber fast keine Sexualstraftaten. Somit werden bestimmte Delikte auch massiv überschätzt und andere unterschätzt. Die Anzeigebereitschaft zwischen verschiedenen Delikten variiert stark. Der Königsweg, um an das Dunkelfeld ranzukommen, ist – ähnlich wie bei Wahlforschung – Befragungen in der Allgemeinbevölkerung durchzuführen.
Also muss die Schülerschaft befragt werden?
Genau, es muss Schulklassenbefragungen geben. In Niedersachsen gibt es zum Beispiel eine große Dunkelfeldtradition in meinem ehemaligen Heimatinstitut, dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsens. Dort werden alle zwei Jahre im Schnitt zwischen 9000 und 12000 Schüler der neunten Klassen befragt.
Und was kam dabei heraus?
An den Zahlen lässt sich kein massiver Anstieg von Kriminalität und Gewalt an deutschen Schulen ableiten. Zwar gibt es auch in der Dunkelfeldforschung Einschränkungen, aber nicht so große wie in der Hellfeldforschung. Und eine weitere Datenquelle, die ich mir immer gerne anschaue, sind die Zahlen der Unfallversicherung.
Warum genau die?
Die Unfallversicherungen erfassen Schulunfälle in zwei Kategorien: Raufunfälle und schwere Raufunfälle. Es geht also um leichte Verletzungen in Folge von Prügeleien und schwere Formen, wenn es etwa in Folge körperlicher Auseinandersetzungen zu Frakturen kommt. Diese Zahlen sind besonders interessant, weil die Fälle aus versicherungstechnischen Gründen gemeldet werden. Im Krankenhaus wird außerdem im Fall von verletzten Kindern gefragt, wo der Unfall passiert ist. War es im Schulkontext, greift die Unfallversicherung.
Und welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Zahlen ableiten?
Auch da sieht man in der höheren zeitlichen Auflösung eher einen stetigen Rückgang. Es ist auf keinen Fall so, dass man sagen kann, dass Gewalt an Schulen drastisch zunimmt. Und das steht im starken Kontrast zur gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung oder der medialen Berichterstattung.
Schulleitungen melden sich immer wieder alarmierend zu Wort, dass Schüler mit Waffen, etwa Messern, zum Unterricht kommen. Ist das ein zu beobachtender Trend?
Ja, tatsächlich ist die Ausstattung mit Messern gestiegen. Fragt man nach den Motiven, ist der überwiegende Grund eine Art Defensivstrategie. Es wird also angegeben, man wolle sich bewaffnen, weil es draußen offenbar gefährlicher geworden ist und alle ein Messer mit sich führen. Sobald Menschen Angst haben, Opfer einer Straftat zu werden, führt das auch zu Veränderungen im eigenen Verhalten. Zum Beispiel in Hinsicht darauf, sich besser schützen zu wollen. Eine Frage, die beleuchtet werden muss, ist also, warum sich Jugendliche solche Sorgen machen.
Die Jugend verroht also nicht?
Dass die Jugendlichen immer weiter verrohen, halte ich wirklich für hanebüchen. Was zum Beispiel emotionale Gewalt oder Stigmatisierung angeht, ist in Teilen der Jugend eine sehr hohe Sensibilität vorhanden. Die Einstellung zu Gewalt hat sich in den letzten zehn Jahren immer weiter verändert. Vor allem, was die Legitimität von Gewalt angeht. Die Gesellschaft ist gewaltablehnender geworden. Auch die Einstellung zu Gewalt durch die Eltern hat sich verändert: Würde man heute in der Öffentlichkeit ein Kind körperlich maßregeln, würden die umstehenden Passanten die Polizei verständigen.
Welche Faktoren können dazu führen, dass Jugendliche gewalttätig werden, und was lässt sich dagegen tun?
Wer als Kind Gewalt erlebt oder erlebt hat, lernt, dass man mit Gewalt seine Interessen durchsetzen kann. Es ist also wichtig, sehr früh zu verhindern, dass Kinder Opfer häuslicher Gewalt werden. Das ist die allersinnvollste Maßnahme, die man ergreifen kann. Außerdem begehen Jugendliche unter Alkohol- und Drogeneinfluss öfter Straftaten. Es braucht also gute Prävention an dieser Stelle, aber keine niedrigschwellige, sondern eine zielgerichtete an Jugendliche, die entgleisen. Und noch ein ganz wichtiger Punkt: Unstrukturierte und unüberwachte Freizeit. Straftaten werden vor allem dann begangen, wenn zum Beispiel die Schule ausfällt oder man sie schwänzt.