Hunderttausende weitere Katholiken haben ihrer Kirche den Rücken gekehrt. Für Experte Jan Loffeld steht dahinter ein galoppierender Bedeutungsverlust der Religion.
Experte zu Kirchenaustritten„Das Christentum verschwindet aus dem kulturellen Gedächtnis“
Christen sind in Deutschland inzwischen eine Minderheit. Professor Jan Loffeld glaubt: Dieser Trend wird sich fortsetzen, denn Religion wird für die Menschen immer unwichtiger. Was kann die Kirche dagegen tun? Darüber spricht der Religionsforscher von der Tilburg University School of Catholic Theology in Utrecht – aufgewachsen am Niederrhein und selbst Priester – im Interview mit Philipp Ebert.
Herr Professor Loffeld, 2023 sind mehr als 400000 Menschen aus der katholischen Kirche in Deutschland ausgetreten. Der Trend der letzten Jahre setzt sich ungebremst fort. Ist das eigentlich eine schlechte Nachricht?
Für die Kirche als Institution ist das sicherlich eine schlechte Nachricht, weil die Organisation von der Identifikation und dem Geld der Mitglieder lebt. Eigentlich ist es aber eine sehr ehrliche Nachricht über Realitäten unserer Gesellschaft: Erst schwindet der Glaube, dann das auf dem Glauben basierende Engagement. Wenn die Kirchenmitgliedschaft dann irgendwann keinen „Mehrwert“ bietet und es einen „Triggerpunkt“ gibt, dann kommt es häufig zum Austritt. Darunter liegt aber ein anderer Prozess: Das Christentum verschwindet aus dem kulturellen Gedächtnis. Der Glaube spielt auf der individuellen Ebene eine immer geringere Rolle. Allein das Gespräch über religiöse Themen findet mehrheitlich nicht mehr statt.
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Was sind die Gründe dafür?
Religion bietet Antworten auf Fragen, die viele Menschen nicht mehr stellen: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Für viele Menschen ist das kein existenzielles Problem mehr. Viele Lebenslagen rufen keine religiösen Fragen mehr auf, sodass auch keine Antworten verlangt sind. Die Menschen finden auch im Diesseits genug Zufriedenheit und Glück.
Ist das ein deutscher, ein europäischer oder ein globaler Trend?
Öffentlich nehmen wir Religion in Verbindung mit Extremismus oder vielfältigem Missbrauch wahr. Aber auf individueller Ebene nimmt der Glaube an einen personalen Gott beziehungsweise an eine transzendente Wirklichkeit auf der ganzen Welt – einige Länder in Asien und Afrika ausgenommen – ab. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Alter: Wer heute unter 40 ist, ist statistisch gesehen unreligiöser als die eigenen Eltern im gleichen Alter waren. Es zeigt sich: Die religiöse Prägung im Kindheitsalter ist entscheidend dafür, ob man sich später als religiös bezeichnet. Und diese Prägung ist heute geringer als vor Jahrzehnten.
Welche Verantwortung tragen die Kirchen für die Austritte?
Die Frage ist komplex. Die Verflüchtigung von Religion auf der individuellen Ebene wurde nicht alleine von den Religionsgemeinschaften ausgelöst, sondern wird von ihnen eher verstärkt. Im Protestantismus etwa durch die Fokussierung auf das Individuum. Das hat dazu beigetragen, dass es ganz viele individuelle Glaubensexistenzen gibt ohne Rückbindung an eine Kirche und ein überliefertes Glaubensgut. Zugleich fremdelt die katholische Kirche seit 200 Jahren mit der Moderne. Das beschleunigt die Kirchenkrise und den Abschied von der Religion. Langfristig liegt der Trend allerdings woanders, nämlich in den Rahmenverschiebungen in der Geschichte, wie wir an den Konfessionen sehen können, die sich besser in der Moderne orientiert haben: Der Himmel ist immer weniger relevant für immer mehr Menschen.
Welche Rolle spielt die sexualisierte Gewalt in der Kirche für die Austritte?
Die sexualisierte Gewalt wie auch die häufig zu schleppende Aufarbeitung sind absolute Verstärker für diese Entwicklung.
Ist die säkularisierte Gesellschaft eine bessere als die Gesellschaft, die von der Volkskirche geprägt war?
Wer entscheidet das? In der volkskirchlichen Gesellschaft gab es viel Sozialkontrolle: Unterdrückung von sexuellen Identitäten, durch Eltern vorgezeichnete Berufsentscheidungen und vieles mehr. Beide Gesellschaftsformen – die volkskirchliche und die religionslos-freiheitliche – haben ihre Begrenzungen. Wenn ich mich entscheiden muss, lebe ich lieber in der freiheitlichen Gesellschaft, in der jeder er selbst sein darf. Auch für den Glauben ist es eine Befreiung, wenn ich nicht mehr glauben muss, sondern es freiwillig tun kann.
Könnten Reformen in der katholischen Kirche – wie die Zulassung von Frauen zu allen Ämtern, eine liberalere Sexualmoral und die Abschaffung des Pflichtzölibats für Priester – den Trend umkehren, dass immer weniger Menschen in der Kirche sein wollen?
Sie können ihn vielleicht verlangsamen, aber nicht stoppen. All diese Dinge sind notwendig, aber nicht hinreichend, um mit dem Relevanzverlust von religiösem Glauben zu umzugehen.
Was kann Kirche als Reaktion auf ihr Schrumpfen tun?
Kirche muss vor allem gewisse liebgewordene Dinge nicht mehr tun und sich von unrealistischen Ideen verabschieden: von der Idee, alle Menschen zu erreichen; von der Idee, alle brauchen Religion und religiöse Gemeinschaft. Die Kirche muss sich konstruktiv in den Entwicklungen unserer Zeit einbringen, statt in die Depression zu verfallen. Und: Die Kirchen müssen weiterhin in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen, etwa durch Wohlfahrtsorganisationen, solange sie dazu noch die notwendigen Ressourcen aufbringen können. Und auch, indem Christen auf „prophetische“ Weise in zentralen ethischen Fragen die Stimme erheben.