Wie geht es weiter im Konflikt zwischen Israel und dem Mullah-Regime? Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht für Israel wachsende Chancen, internationale Allianzen zu schmieden – und erwartet von den Europäern einen Kurswechsel.
Politikwissenschaftler und Autor zur Zeit der Kriege„Putin will die Europäische Union zerstören“
Herfried Münkler ist im Diskurs über internationale Politik die Stimme der Realpolitik. In seinem Buch „Die Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ entwirft er das Bild einer neuen Weltkarte geostrategischer Politik. Im Interview mit Stefan Lüddemann rät Münkler zu Wachsamkeit in einer unübersichtlichen Lage. Europa empfiehlt er, endlich zum Akteur auf der politischen Bühne zu werden.
An den Krieg in der Ukraine haben wir uns fast gewöhnt. Jetzt kommt noch der Konflikt im Nahen Osten dazu. Hängen diese Konflikte zusammen?
Sie hängen insofern zusammen, als dass die Autorität der USA als Garant für Stabilität auch in schwierigen Räumen nachgelassen hat. Es ist deutlich geworden, wie wenig Einfluss der US-Präsident Joe Biden auf Israels Premier Netanjahu hatte. Das gilt aber auch für Russland, das sich anders verhalten hätte, wenn mit einer nachhaltigen Reaktion der USA zu rechnen gewesen wäre. In den Augen des Kreml ist der Westen erschöpft und dekadent. Russland ist zudem strategischer Verbündeter des Iran und auf dessen Drohnenlieferungen angewiesen.
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Wie hätte denn die nachhaltige Antwort der USA aussehen müssen?
Die USA haben ihre starke Position, die sie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hatten, inzwischen verloren. Barack Obama hat sich zum Beispiel aus dem syrischen Bürgerkrieg herausgehalten. Die USA haben seit geraumer Zeit ein Empfinden dafür entwickelt, dass sie überfordert sind. Obamas Äußerung, man sei nicht zu einem gleichzeitigen machtpolitischen Engagement im atlantischen und pazifischen Raum in der Lage, hat das ja deutlich gemacht.
Steuern wir auf eine Ära der Kriege zu?
Da gibt es zwei mögliche Szenarien. Ich habe in meinem Buch „Die Welt im Aufruhr“ zu beschreiben versucht, dass sich eine neue Weltordnung mit fünf Akteuren herausbildet. Demnach leben wir jetzt in einer Zwischenzeit. Die neue Weltordnung wird dafür sorgen, dass es zumindest in den Zentren dieser Weltordnung auf absehbare Zeit keine neuen Kriege geben wird. Kriege wie derjenige, der gerade im Sudan stattfindet, erschüttern uns nicht, solange sie keine neuen Migrationswellen auslösen.
Europa gibt in den verschiedenen Konfliktszenarien keine gute Figur ab. Was muss sich ändern, damit Europa in Fragen von Krieg und Frieden zu einem Akteur von Gewicht und Einfluss werden kann?
Die Europäer müssten ein politischer Akteur sein wollen, also mehr als eine Fiskal- und Wirtschaftsgemeinschaft. Das geht nicht mit einem außenpolitischen Vertreter, der zurückgebunden bleibt an die unterschiedlichen Meinungen von 27 Mitgliedsstaaten. Ich könnte mir vorstellen, dass die fünf Großen innerhalb der Europäischen Union, also das Weimarer Dreieck mit Deutschland, Frankreich und Polen plus Spanien und Italien, eine eigene Institution bilden könnten. Diese fünf Staaten würden die Außen- und Sicherheitspolitik an sich ziehen, sich auf ein Mehrheitsprinzip verständigen und entsprechend agieren. Da könnte sogar der Vorsitz wechseln. Dann gäbe es die berühmte Telefonnummer Europas, um Henry Kissingers Formulierung aufzugreifen.
Aber liegt eine solche Vorstellung nicht fern?
Nein, nicht einmal, wenn man etwa die Lernkurve der deutschen Politik betrachtet, aber auch die der deutschen Bevölkerung. Die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, ist weiter gewachsen. Insofern sind auch Vorstellungen für eine neue Positionierung Europas durchaus realistisch. Es geht um ganz andere Herausforderungen als die der friedlichen Jahrzehnte.
Werden Ereignisse um uns herum solche Veränderungen in Europa womöglich erzwingen?
Die Wahrscheinlichkeit dessen wird sich erhöhen. Wieder einmal zeigt sich die Produktivität von Feindschaft. Als Europäer und als Deutsche zumal haben wir uns an der Vorstellung, nur von Freunden umgeben zu sein, politisch berauscht. Wir hatten keine Vorstellung mehr davon, dass es auch strategische Gegenspieler gibt. Wladimir Putin war das lange Zeit schon. In Deutschland und in Brüssel hat man sich geweigert, das wahrzunehmen. Spätestens mit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist er offen als Feind aufgetreten. Er zeigt in jeder Hinsicht, dass er ein fundamentales Interesse daran hat, die Europäische Union zu zerstören.
Sie sind kein Freund einer Politik, die mit dem Hinweis auf Werte operiert. Haben Sie dennoch Sympathie für den Gedanken, dass es bei Konflikten auch darum gehen könnte, westliche Freiheit gegen die Unfreiheit der Autokraten zu verteidigen?
Bei Werten kommt es stets darauf an, wo man wie mit ihnen operiert. Ich halte wenig davon, im globalen Süden aufzutreten und den dortigen Eliten zu erzählen, wie sie sich zu verhalten haben, damit man ihnen ein freundliches Gesicht zeigt. Selbstverständlich bin ich der Überzeugung, dass die Europäer ihre eigene Lebensweise, ihre Werte und ihre politische Verfassung zu verteidigen haben – gegen Herausforderungen von außen ebenso wie im eigenen Land. Dabei denke ich an Rechtspopulisten und an Ungarns Regierungschef Viktor Orban, der offenbar auf den Zerfall der EU und der Nato wettet, weil er hofft, dadurch Vorteile für sein Land zu bekommen.
Betrifft das auch Vorschläge zum Umgang mit dem Krieg in der Ukraine?
Wenn Vorstellungen, nach denen der Krieg in der Ukraine einzufrieren wäre, Raum erhalten, dann ist zweierlei klar: Die Charta der Vereinten Nationen mit dem Verbot von Angriffskriegen stünde nur noch auf dem Papier und würde keine Rolle mehr spielen. Zweitens wäre damit klar, dass sich in Europa mit Gewalt Grenzen verschieben lassen. Wenn Putin das kann, werden der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und andere glauben, dass sie das auch können. Dann wären wir wirklich in einer unangenehmen Lage.
Sind deutsche Politiker vorbereitet?
Es gibt eine Reihe von Politikern in Deutschland, die strategisch nicht besonders weit denken, sondern allenfalls taktisch orientiert sind. Der SPD-Politiker Rolf Mützenich ist dafür zum Inbegriff geworden. Er kann sich einfach die Folgen eines Einfrierens des Konflikts in der Ukraine nicht vorstellen. Sollte in dieser Weise die Ukraine vom Meer abgeschnitten werden, dann wäre sie für Jahrzehnte ein finanzieller Kostgänger der Europäischen Union. Und fünf bis zehn Millionen Ukrainer würden sich Richtung Westen auf den Weg machen.
Der Berliner Historiker und Politikwissenschaftler Herfried Münkler gehört zu den wichtigsten Analytikern der internationalen Politik. Münkler bekleidete bis 2028 einen Lehrstuhl für politische Ideengeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Mit Büchern wie „Der Große Krieg. Die Welt von 1914 bis 1918“ und „Die Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ erreicht Münkler weite Leserkreise. Münkler ist darüber hinaus Mitglied wissenschaftlicher Akademien und Politikberater. (lü)
Wie könnte der Krieg in Gaza beendet werden?
Mit Blick auf Gaza und das Westjordanland ist die entscheidende Frage, ob es gelingt, eine verlässliche Regierung zu bilden, die ein Verhandlungspartner für Israel sein kann. Die Autonomie-Behörde und erst recht die Hamas sind das nicht. Mit einer solchen Regierung müsste Israel belastbare Verträge schließen können, im Sinn des Projekts Land gegen Frieden. Nur dann wird man dieses Problem lösen können. Israel muss es darum gehen, arabische Staaten als Verbündete zu bekommen. Diese Staaten könnten den Gaza-Streifen als Mandatsgebiet der arabischen Welt begreifen und Garanten der Verlässlichkeit darstellen. Das wäre auch die Voraussetzung dafür, dass in Israel Regierungen gebildet werden, die nicht den Rechten und Rechtsradikalen anheimfallen.
Wie sehen und bewerten Sie das Vorgehen der Israelis in Gaza? Erleben wir dort einen Völkermord, wie von einigen Akteuren bereits kritisiert wurde?
Das Wort Völkermord ist zu einem Mittel der politischen Denunziation geworden. Wenn man jemandem einen Völkermord zuschreiben kann, bedeutet das eine generelle Rechtfertigung der eigenen Position. Ich würde nicht sagen, dass es ein Völkermord ist. Es ist ein Krieg, der zwangsläufig auch gegen die Zivilbevölkerung geführt wird. Die Hamas nutzt die Zivilbevölkerung als Schutzschild. Sie versteht ihren militärischen Arm offenbar nicht als Schutzschild der eigenen Bevölkerung. Sie hat dieses Verhältnis genau umgekehrt. Mit der Geiselnahme hat man das noch einmal gesteigert, um Israel in eine Zwickmühle zu bringen. All jenen, die gerade auf einem moralisch hohen Ross sitzen, sei gesagt, dass Politik sich immer in Zwickmühlen und Paradoxien bewegt. Israel hatte nicht die Möglichkeit, nicht zu reagieren. Dabei spielt vielleicht auch Verbitterung eine Rolle: Israel hat den Gazastreifen ja einst kontrolliert. Mit dem Rückzug hat man einen Vertrauensvorschuss gegeben. Dafür zahlt Israel jetzt einen sehr hohen Preis. All das gehört mit in die Analyse.