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Dutzendfach vergewaltigte Französin zeigt Mut„Nicht das Opfer hat sich zu schämen und zu verstecken“

Lesezeit 4 Minuten
Will sich nicht verstecken: Gisèle Pélicot, die gegen ihren Noch-Mann und 51 weitere Angeklagte als Zivilklägerin auftritt.

Will sich nicht verstecken: Gisèle Pélicot, die gegen ihren Noch-Mann und 51 weitere Angeklagte als Zivilklägerin auftritt.

Gemeinsam mit ihren Kindern trat Gisèle Pélicot gegen 51 Männer an, die sich an ihr vergangen haben sollen. In einem beispiellosen Fall zeigt sie ungewöhnlichen Mut.

Gisèle Pélicot hält sich aufrecht, als sie an diesem Donnerstagmorgen an das Pult vor den Richtern in Avignon tritt. Es lässt sich nur erahnen, wie schwer es für die 72-Jährige sein muss, ihre erste Zeugenaussage zu machen. Fragen zu beantworten, die Intimstes behandeln. Sie weiß die Augen von dutzenden Journalisten auf sich, aber auch jene ihrer drei Kinder, die wie sie selbst als Zivilkläger auftreten. „In meinem Inneren bin ich ein Ruinenfeld“, sagt sie. „Die Fassade ist solide, aber dahinter…“ In ihrem Rücken weiß sie 51 Angeklagte, die sich an ihr vergangen haben sollen und ihr Noch-Ehemann, Dominique Pélicot, dem vorgeworfen wird, mehr als neun Jahre lang die Vergewaltigungen im ehelichen Schlafzimmer organisiert und gefilmt zu haben. Um sie zu betäuben, mischte er ihr hoch dosierte Medikamente ins Abendessen. Experten zufolge brachte er sie damit in Lebensgefahr.

Mut und Haltung sind bemerkenswert

Außergewöhnlich an diesem Prozess, der am Montag begann und bis Mitte Dezember läuft, sind nicht nur die hohe Zahl der Angeklagten, das Ausmaß der Taten, die ihnen vorgeworfen werden, die Grausamkeit und erschütternde Respektlosigkeit der Männer gegenüber Gisèle Pélicot. Sondern vor allem der Mut und die Haltung dieser Frau.

Gegen die Anträge mehrerer Verteidiger trat sie für öffentliche Verhandlungen ein, auch wenn Videoaufnahmen abgespielt werden, die sie nackt, bewusstlos und als Vergewaltigungsopfer zeigen – aber eben auch die Täter bei ihrem Treiben. Deren Widerwärtigkeit soll der ganzen Welt offenbart werden. Viele von ihnen sind Familienväter, haben Berufe wie Krankenpfleger, Gemeinderat, Feuerwehrmann. Nicht das Opfer habe sich zu verstecken oder zu schämen, sagte einer ihrer Anwälte, Stéphane Babonneau: „Die Schande muss das Lager wechseln.“

Avignon: Polizeibeamte gehen vor dem Prozess gegen Dominique Pelicot in Avignon durch das Gerichtsgebäude.

Avignon: Polizeibeamte gehen vor dem Prozess gegen Dominique Pelicot in Avignon durch das Gerichtsgebäude.

Bei den ersten Befragungen wiesen 35 der 51 Männer den Vorwurf der Vergewaltigung zurück: Sie seien in eine Falle getappt, hätten gedacht, die Frau spiele ihre Bewusstlosigkeit nur vor. Manche sagten, sie treffe keine Schuld, denn Dominique Pélicot habe sie schließlich über eine spezielle Internet-Seite eingeladen. Dessen Anwalt zufolge waren alle genau über den bewusstlosen Zustand der Frau informiert. Gisèle Pélicot appellierte bei ihrer ersten Zeugenaussage an die Angeklagten: „Übernehmen Sie wenigstens einmal in Ihrem Leben die Verantwortung für Ihre Taten!“

Für Gisèle Pélicot brach eine Welt zusammen

Beim Anblick der ersten Bilder in einem Polizei-Kommissariat im Herbst 2020 sei eine Welt für sie zusammengebrochen, sagte sie. Alles stürzte ein, was sie seit 50 Jahren mit ihrem Mann aufgebaut hatte: eine Familie mit drei gemeinsamen Kindern, sieben Enkelkindern, „unsere Freunden sagten, wir seien das Idealpaar“. Vergewaltigung sei nicht das richtige Wort für das, was sie auf den Videos sah: „Das ist Barbarei.“ Die Männer seien manchmal zu zweit oder zu dritt auf ihr gewesen, während sie ohne Bewusstsein da lag. Sie wollte keinen Ausschluss der Öffentlichkeit, um ein Licht auf die Praktik der weitverbreiteten Medikamentenverabreichung zu werfen. Auf diese Weise werden Menschen – meist Frauen – unwissentlich missbraucht. „Ich mache das für alle diese Frauen, die vielleicht nie als Opfer anerkannt sein werden.“

Hilfs-Vereinigungen zufolge, von denen auch ihre Tochter eine gegründet hat, ist die Dunkelziffer von solchen Fällen sehr hoch. Es gehe um mehr Sensibilisierung auf allen Ebenen – bei den Ärzten, der Polizei, in Krankenhäusern, aber auch in der Gesellschaft allgemein.

Dominique Pélicot kam die Polizei vor vier Jahren nur auf die Schliche, weil er in einem Supermarkt im südfranzösischen Mazan, wo er mit seiner Frau die Rente verbrachte, Frauen unter den Rock filmte. Bei der Beschlagnahmung seines Handys und seiner Computer stießen sie auf 3800 Vergewaltigungsfotos und -videos von seiner Frau. Über seine DNA wurde er auch als der Mann identifiziert, der 1999 vergeblich versucht hatte, eine junge Immobilienmaklerin bei einer angeblichen Wohnungsbesichtigung zu überwältigen. Ähnlich war das Vorgehen bei einem Mord an Sophie Narme, der 19-jährigen Mitarbeiterin einer Immobilienagentur in Paris. Der nie aufgeklärte Fall wird nun wieder aufgerollt und Dominique P., zu dieser Zeit selbst Immobilienmakler im Pariser Ballungsraum, verdächtigt. Doch Beweise fehlen, da die DNA-Spuren verloren gingen.