Sadegh Bagheri wird zum neuen Helden der iranischen Protestbewegung. Seine Videos im Internet scheinen der Ausdruck von reiner Lebensfreude. Doch es geht um mehr.
Fischhändler aus Teheran wird Symbol70-Jähriger schockiert Mullahs mit Hüftschwung
Sadegh Bagheri klatscht in die Hände und lässt die Hüften kreisen. Umringt von Besuchern des Fischmarktes in der iranischen Stadt Rascht am Kaspischen Meer, tanzt der 70-Jährige zwischen den Auslagen seines Fischladens.
Jede Textzeile, die Bagheri singt, wird von seinem Publikum mit einem rhythmischen „Oh, oh, oh, oh“ beantwortet. Kurze Videos seiner Tänze hat Bagheri ins Internet gestellt: ein harmloser Ausdruck der Lebensfreude, möchte man meinen. Doch die Behörden der Islamischen Republik Iran sehen das anders. Sie wollen Sadegh „Booghy“, wie der 70-jährige Fischhändler genannt wird, das Tanzen verbieten – und machen ihn damit zu einem Helden der Protestbewegung, der im ganzen Land kopiert wird.
Verstoß gegen Sitte und Anstand
Tanzen und Singen in der Öffentlichkeit sind im Iran verboten, weil das islamistische Regime darin einen Verstoß gegen Sitte und Anstand sieht. Das Verbot wird von den Behörden nicht immer durchgesetzt, doch iranische Gerichte haben öffentliche Tänze in der Vergangenheit hin und wieder mit langen Haftstrafen geahndet. Auch bei den Protesten, die nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini nach Festnahme durch die Religionspolizei im vergangenen Jahr im ganzen Land losbrachen, drückten manche Demonstranten ihren Widerstand gegen das Regime mit Tanz-Videos aus.
Das macht den Fischhändler aus Rascht für die Behörden verdächtig. Sadegh „Booghy“, der für einen 70-Jährigen sehr beweglich ist, kommt bei seinen Solo-Tänzen ohne Musikbegleitung aus. Videos, die er in den vergangenen Wochen auf Instagram veröffentlichte, zeigen ihn an verschiedenen Stellen des Fischmarktes von Rascht, stets im Mittelpunkt eines begeisterten Publikums. Er wolle die Leute glücklich machen, sagte der Fischhändler, der nach Medienberichten auch als Taxifahrer arbeitet, einem lokalen Fernsehsender.
Instragram-Konto wurde gesperrt
Den Spitznamen „Booghy“ erhielt Bagheri, weil er in seiner Freizeit mit einem Megafon als Einpeitscher im Fußballstadion von Rascht auftritt: „Booghy“ lasse sich mit „Krachmacher“ übersetzen, sagte der Iran-Experte und Autor Arash unserer Zeitung.
Die Videos des 70-Jährigen wurden von anderen Iranern aufgegriffen. Auf Instagram hat er inzwischen mehr als eine Million Anhänger: „Booghy“ ist zum Internet-Star geworden. Nachahmer unterlegten das „Oh, oh, oh, oh“ vom Fischmarkt mit Musik und filmten sich mit ihren eigenen Versionen. In manchen Online-Clips tanzen Frauen und Mädchen, bei denen das Tanzverbot strenger gehandhabt wird als bei Männern.
Sadegh „Booghy“ bekam Besuch von der Polizei, die ihn festnahm und sein Instagram-Konto sperrte. Einige seiner Anhänger aus Rascht wurden ebenfalls verhaftet und laut Medienberichten im Polizeigewahrsam verprügelt. Die Polizei in Rascht erklärte, Bagheri habe mit seinen Videos die Anstandsregeln verletzt. Vier Läden auf dem Fischmarkt wurden geschlossen, weil sie in den Videos zu sehen waren.
Regime befeuert Hype um Bagheri
Damit verhalf die Polizei dem Tänzer zu noch mehr Ruhm. „Plötzlich tanzt und singt alles von Jung bis Alt“, schrieb die iranische Exil-Aktivistin Masih Alinejad auf Twitter, wo sie Videos aus ganz Iran veröffentlichte. Hätte das Regime den Fischhändler in Ruhe gelassen, wären seine Videos möglicherweise bald von der nächsten Internet-Sensation verdrängt worden. „Booghy“ wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen, und auch sein Instagram-Konto funktioniert wieder. Doch diese Kehrtwende kam zu spät, um das Phänomen noch einzufangen.
Dass Sadegh „Booghy“ zum Star geworden sei, zeige das Potential für zivilen Ungehorsam in der iranischen Gesellschaft, sagt Iran-Experte Azizi. Das Regime sei ein „Feind von Tanz und Glücklichsein“. Der regimekritische Akademiker Fayaz Zahed fragte in der Zeitung „Etemad“, warum die Führung der Islamischen Republik so leide, wenn die Bevölkerung glücklich sei.
Wenn Normalbürger festgenommen und verprügelt werden, nur weil sie im Internet ein paar Tanzschritte zeigen, könnte das der demoralisierten Protestbewegung neuen Auftrieb geben. Im Iran gibt es seit fast einem Jahr keine Massendemonstrationen gegen das Regime mehr. Zehntausende Festnahmen, lange Haftstrafen und die Hinrichtung von acht Demonstranten haben die Proteste erstickt. Azizi und andere Iran-Experten sind überzeugt, dass der Aufstand wiederaufleben kann, weil die Kernforderung der Demonstranten nach mehr Freiheit nach wie vor nicht erfüllt ist. Der Fischhändler aus Rascht gibt den Regimegegnern neue Hoffnung.