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Interview

„Die Demokratie wird angegriffen“
Familienministerin Lisa Paus über Kinderarmut und die Gefahr rechter Kräfte

Lesezeit 6 Minuten
Bremen: Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, bei einer Pressekonferenz nach der Jugend- und Familienministerkonferenz. Unter Bremer Vorsitz haben die zuständigen Ministerinnen und Minister sowie Senatorinnen und Senatoren der Länder über Themen wie Inklusion und Teilhabe, Sozialraum- und Familienorientierung, Personalgewinnung und Fachkräftesicherung gesprochen. 

Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Laut Paus steht die Demokratie so sehr unter Druck wie noch nie. Zugleich macht sich die Grünen-Politikerin für die Kindergrundsicherung stark.

Lisa Paus hat den wohl längsten Titel unter allen Kabinettsmitgliedern von Olaf Scholz. Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Jugend und Frauen nannte ihr Ressort selbst neulich „Gesellschaftsministerium“. Rena Lehmann sprach mit der Grünen-Politikerin über ihr wichtigstes Projekt, die Kindergrundsicherung und den Zustand der Demokratie.

Frau Paus, die jüngsten Papiere der FDP musste man so verstehen, dass sie weitere Sozialleistungen wie die Kindergrundsicherung wieder infrage stellt. Wird die Kindergrundsicherung wie geplant 2025 eingeführt?

Davon gehe ich aus. Die Gespräche im Parlament dazu laufen. Dann wird auch der weitere Zeitplan konkretisiert.

Warum halten Sie sie für ein wirksames Mittel gegen Kinderarmut?

Sehr viele Expertinnen und Experten und fast alle Verbände halten eine Kindergrundsicherung für ein sehr wirksames Mittel gegen Kinderarmut. Es ist mein zentraler Antrieb, dafür zu sorgen, dass Kinder in Deutschland nicht in Armut aufwachsen müssen. Wir können es uns angesichts des Fachkräftemangels doch gar nicht leisten, dass jedes fünfte Kind in Armut aufwächst und damit weniger Chancen hat. Das können wir nicht hinnehmen. Das sieht auch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung so in vielen Umfragen. Und gleichzeitig wollen wir die Bildungsinfrastruktur, insbesondere auch die Qualität in Kitas verbessern. Beides gehört zusammen.

In dieser Woche feiert das Land 75 Jahre Grundgesetz. Kann es so bleiben, wie es ist?

Das Grundgesetz ist das Fundament für unsere Gesellschaft. Natürlich gibt es Debatten darüber, unsere Verfassung noch besser zu machen. Kinderrechte zum Beispiel gehören ebenfalls ins Grundgesetz. Oder das Wahlalter sollte aus meiner Sicht insgesamt auf 16 Jahre gesenkt werden. Aber dass wir über unsere Verfassung debattieren und Konsens suchen, dass sie nicht statisch ist, sondern sich an die Entwicklung unserer Gesellschaft anpassen kann – genau das bedeutet Demokratie. Genau deswegen bin ich aus voller Überzeugung Verfassungspatriotin.

Wie steht es denn um die Demokratie?

Wir haben eine lebendige Demokratie, und sie ist wehrhaft. Man muss aber auch festhalten: So stark wie derzeit stand die Demokratie in den vergangenen 75 Jahren nie unter Druck. Schauen Sie, wie die Zahl der Demokratien weltweit zurückgeht und autokratische Systeme zunehmen. Die Demokratie wird von innen wie von außen angegriffen. Die Bundesinnenministerin hat diese Woche vorgestellt, dass politisch motivierte Straftaten besorgniserregend zunehmen, am deutlichsten rechtsextreme Angriffe. Daher müssen wir alle gemeinsam unsere Demokratie schützen und verteidigen.

Ihr Ministerium unterstützt bundesweit Projekte mit dem Förderprogramm „Demokratie leben!“ mit rund 200 Millionen Euro jährlich. Bewirkt das gar nichts?

Natürlich bewirkt das etwas. Zum Beispiel in den 360 Kommunen, die mit diesem Geld eine lokale Partnerschaft für Demokratie unterstützen. Dort vernetzen sich die zivilgesellschaftlichen und kommunalen Akteure und initiieren ganz unterschiedliche Projekte für eine lebendige Demokratie vor Ort, gegen Populismus und jede Form von Extremismus. Unter anderem hat das BKA geprüft, wie sich Regionen mit Angeboten von „Demokratie leben!“ in Hinsicht auf Gewaltvorkommen seit 2015 entwickelt haben.

Lassen sich Erfolge nachweisen?

Auch wenn die Gründe natürlich vielfältig sind, das Ergebnis zeigt: Solche Regionen mit mehr Präventionsangeboten haben weniger Fälle von politisch motivierter Kriminalität. Klar ist: Mit rund 200 Millionen Euro, die in jährlich zu bewilligende Projekte fließen, kann man nicht die Demokratie im ganzen Land absichern. Da spielen weit mehr gesellschaftliche und soziale Faktoren mit rein. Aber gerade in unseren heutigen Krisenzeiten müssen wir doch alle Kräfte stärken, die sich für die Demokratie einsetzen.

Sie und Ministerin Nancy Faeser (SPD) drängen auf ein neues Demokratiefördergesetz, das die FDP aber ablehnt, weil es aus ihrer Sicht linke Projekte finanziert. Warum sind Sie überzeugt, dass das eine gute Maßnahme für Demokratie ist?

Der Vorwurf, es handle sich hier um linke Projekte, wird auch durch seine Wiederholung nicht wahrer. Wir unterstützen die demokratische Zivilgesellschaft, ganz egal, aus welcher politischen Ecke sie kommt. Basis ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Alle unsere Projekte müssen sich einem Auswahlverfahren stellen und bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dabei ist die Treue zum Grundgesetz eine Selbstverständlichkeit.

Warum braucht es dann ein neues Gesetz?

Bisher hat diese Förderung von Demokratie-Projekten durch den Bund keine gesetzliche Grundlage. Sie findet also freiwillig statt. Das Gesetz bringt mehr Transparenz auch gegenüber dem Gesetzgeber. Zukünftig soll es eine Berichtspflicht geben gegenüber dem Parlament über Schwerpunktsetzung, Durchführung und Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen. Ich hoffe, das hilft dann auch zur weiteren Versachlichung der Debatten darüber, wie die Steuergelder verwendet werden. Für die Projekte selbst, etwa denen gegen Antisemitismus oder für Demokratiebildung im Kindesalter, gäbe es mehr Planungssicherheit.

Wird das Gesetz denn noch beschlossen?

Ich hoffe sehr, denn es wird dringend gebraucht. Es ist doch bemerkenswert, dass die CDU-geführten Bundesländer Hessen und Berlin bereits eigene Landesdemokratiegesetze angekündigt haben. Das begrüße ich sehr. Und auch Horst Seehofer hatte als Bundesinnenminister in der vergangenen Legislaturperiode einen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz vorgelegt. Ich würde gerne vollenden, was Horst Seehofer begonnen hat – gemeinsam mit seiner Nachfolgerin Nancy Faeser. Zum Schutz der Demokratie sollten wir ideologische Grenzen überwinden und pragmatisch tun, was notwendig ist. Erst kürzlich wieder hat der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, es als bedauerlich bezeichnet, dass das Demokratiefördergesetz noch nicht durch sei. Wir sollten alle gemeinsam seine Worte ernst nehmen und gute Kompromisse finden.

16-Jährige dürfen bei dieser Europawahl erstmals wählen. Wäre ein jüngeres Wahlalter auch für die Bundestagswahl anzustreben?

Das halte ich für absolut notwendig. Es gibt überhaupt keine stichhaltigen Gründe, warum 16-Jährige nicht wählen sollten. Wir haben auf Landes- und auf kommunaler Ebene gute Erfahrungen damit gemacht. Es ist gerade in krisenhaften Zeiten wichtig, dass auch junge Menschen das Gefühl haben, dass sie wahrgenommen und gehört werden.

Mit welcher Wahlbeteiligung unter den Jugendlichen rechnen Sie?

Ich rate jedem, sich an der Europawahl zu beteiligen. Es ist ein urdemokratisches Recht. Diese Europawahl ist wirklich wichtig! Auf der europäischen Ebene wird auch wesentlich über den Klimaschutz entschieden. Und wenn im Europaparlament nur Abgeordnete sitzen, die die Europäische Union abwickeln wollen, dann haben wir bald kein Europa mehr.

Die Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“ hat gezeigt, dass 22 Prozent der jungen Leute AfD wählen würden. Die Grünen verlieren an Zustimmung. Was haben Sie falsch gemacht?

Wir machen die Wahlaltersenkung nicht, weil wir auf entsprechende Wahlergebnisse hoffen. Wie unter den Älteren gewinnen auch bei den Jüngeren die Populisten an Zulauf. Das zieht sich durch alle Generationen, leider. Es ist trotzdem ein gutes und richtiges Signal der Demokratie, zu zeigen, dass die Beteiligung der jungen Generation gefragt ist. Dass die Populisten keine Antworten haben, sondern ihr Süppchen auf der Krise kochen, will ich im Wahlkampf deutlich machen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Grünen bei den Erst- und Jungwählerinnen und -wählern ein gutes Ergebnis erzielen werden.

Warum stellen die Grünen im Europawahlkampf den Kampf gegen Rechts in den Mittelpunkt?

Weil der Rechtsextremismus die größte Gefahr für unsere Demokratie ist. Das haben jüngst die Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität noch einmal mit aller Deutlichkeit gezeigt. Es sind bereits massiv Grenzen überschritten worden. Darüber kann man nicht hinweggehen. Hass und Hetze sind keine Meinung. Es gehört zur DNA der Grünen, die Demokratie zu stärken, auszuweiten, zu schützen und wenn es sein muss auch zu verteidigen.