Die EU-Wahl zeigt eine Stärkung rechtsgerichteter Parteien in ganz Europa, mit der AfD in Deutschland, der RN in Frankreich und der Fratelli d'Italia in Italien.
Europawahl 2024Europa rückt deutlich nach rechts
Als die ersten Schätzungen aus Deutschland auf den Riesenbildschirmen im Brüsseler EU-Parlament aufleuchteten, schlugen manche EU-Vertreter erschrocken die Hand vor den Mund. Mehr als 16 Prozent für die AfD? Im größten und wichtigsten Mitgliedstaat der Gemeinschaft sind die Rechtspopulisten nach der Europawahl die zweitstärkste Kraft – und wären damit, wenn es so bliebe, für die nächsten fünf Jahre mit 16 EU-Abgeordneten im Parlament vertreten.
AfD-Parteichef Tino Chrupalla sprach von einem „Super-Ergebnis“, auch wenn die Umfragen zeitweise ein noch besseres Abschneiden vorhergesagt hatten. Doch Skandale, Spionageverdacht, Bestechungsvorwürfe, verbale Entgleisungen und Gerichtsprozesse hinterließen wohl doch Eindruck bei manchen Wählern. Der Schock über die Hochrechnungen aus Deutschland war in Brüssel trotzdem groß. Dabei hatten die anwesenden Beamten und Politiker zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Prognosen aus Paris und Rom gesehen.
In Frankreich gab sich Jordan Bardella bei der Abgabe seiner Stimme im Pariser Vorort Garches erkennbar bemüht, nicht vorab eine allzu triumphierende Haltung einzunehmen. Ersten Vorergebnissen am frühen Abend zufolge erhielt der 28-jährige Parteichef und Listenführer des rechtsextremen Rassemblement National (RN) rund ein Drittel der Stimmen und hatte damit einen deutlichen Vorsprung vor allen anderen Parteien.
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Bardella hatte stets an die Wähler appelliert, mit ihrer Stimme bei der EU-Wahl Präsident Emmanuel Macron abzustrafen. Und das taten sie. Macrons Spitzenkandidatin Valérie Hayer lag ersten Erkenntnissen zufolge bei rund 14 Prozent – eine herbe Niederlage. In Italien wurden den postfaschistischen Fratelli d’Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ebenfalls rund ein Drittel der Stimmen prognostiziert.
Tatsächlich gab es kaum ein Land, in dem der Trend nicht nach Rechtsaußen zeigte. Die Erkenntnis schon am frühen Sonntagabend lautete: Europa rückt deutlich nach rechts. Laut vorläufigen Schätzungen legte die österreichische FPÖ auf 27 Prozent zu. Mit dem Vlaams Belang könnten die Rechtspopulisten auch in Belgien stärkste Kraft werden. In den Niederlanden kann die PVV von Geert Wilders Wahltagsbefragungen zufolge sieben der 31 Sitze erringen. Selbst in Spanien, wo Sozialdemokraten und Konservative um Platz eins rangen, wurden Zugewinne für die Rechten erwartet.
Was bedeutet das für die EU?
Wackelt mit den Erfolgen der Rechtsextremen das Projekt oder ist gar die Demokratie in Gefahr? Experten gaben am Sonntag zumindest vorerst Entwarnung. Denn trotz der massiven Zugewinne sah es nicht danach aus, als ob die Parteien des Rechtsaußen-Lagers insgesamt auf mehr als 200 der 720 Sitze kommen werden. Das heißt, dass Europas christlich-konservative Parteienfamilie EVP, zu der die CDU und CSU gehören, als stärkste Kraft gemeinsam mit Sozialdemokraten und Liberalen weiterhin eine Mehrheit bilden können, auch wenn sie unter Umständen dünn ist.
Geht der Blick der EVP zu den Grünen oder den Rechten?
Da es deshalb in Zukunft schwieriger wird, im Hohen Haus Mehrheiten zu finden und Entscheidungen durchzubringen, dürfte die EVP eine breitere Basis aufbauen wollen. Doch noch ist offen, ob sie bei der Suche nach Verbündeten auf die Grünen zugeht oder nach Italien schaut. Dort könnten Melonis Leute bereitstehen. Die postfaschistische Ministerpräsidentin wird derzeit in Brüssel von der EVP bei jeder Gelegenheit als konstruktive, proeuropäische Partnerin gelobt. Wer wo die rote Linie ziehen wird, das dürfte sich erst in den nächsten Tagen zeigen.
Derweil steht die AfD in Brüssel isoliert da, nachdem ihre Europaparlamentarier wegen der Äußerungen zur Waffen-SS des Spitzenkandidaten Maximilian Krah aus der rechtspopulistischen ID-Fraktion ausgeschlossen wurden. Ohne Fraktionsstrukturen wird die AfD trotz ihres jetzigen Erfolgs in Deutschland ein Problem bekommen. Sie sucht bereits nach neuen Partnern, unter anderem in Ungarn. Ob sie damit Erfolg haben wird oder fraktionslos bleibt, ist aber völlig offen.
Genauso wie die Frage, ob Marine Le Pen es schaffen wird, Meloni auf ihre Seite zu ziehen und das zweitgrößte Bündnis im Parlament hinter der EVP zu schmieden. Auch Wilders hegt offenbar Pläne, die Kräfte am rechten Rand zusammenzuführen. Dass plötzlich ein Block das EU-Parlament paralysiert, gilt jedoch als unwahrscheinlich. Zu zerstritten sind die Rechts-Parteien und auf vielen Feldern, etwa was die Unterstützung der Ukraine oder das transatlantische Bündnis angeht, uneins.