Trotz Pandemie, politischen Debatten und sozialen Spannungen soll das Turnier unter dem Motto „United by Football – Vereint im Herzen Europas“ weltoffen, friedlich und tolerant verlaufen.
Heim-EM 2024 beginntAuf den Spuren vom Sommermärchen in Deutschland
In Windeseile ist dieses stählerne Ungestüm gewachsen, das jetzt fast erhaben auf dem Fluss seiner Bestimmung ausharrt: Die „Big Screen“, diese riesige schwimmende Leinwand auf dem Main, ist schon vor dem Startschuss dieser Europameisterschaft ein Hingucker, der über Frankfurt hinaus strahlt. Rund 30 Millionen Euro nimmt die Stadt fürs Turnier in die Hand, die Hälfte fließt in die 1,4 Kilometer lange Fanzone am Flussufer.
Frankfurt schmückt sich gerne damit, die deutsche Fußball-Hauptstadt zu sein. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat hier seinen Campus, die Deutsche Fußball-Liga (DFL) ihre Zentrale – und die EURO 2024 GmbH, die Steuereinheit des Turniers, sitzt in der Otto-Fleck-Schneise, wo früher der Verband sein Zuhause hatte. Es sind dieselben Räumlichkeiten, aus denen auch die WM 2006 orchestriert wurde. Oft waren hier auch Turnierdirektor Philipp Lahm und seine Botschafterin Celia Sasic anzutreffen, die aber zuletzt fast nur noch auf Rundreise waren.
Insbesondere Lahm schlägt den Doppelpass zwischen 2006 und 2024 kraft seiner Vita als ehemaliger Nationalspieler: Sein Kunstschuss im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica (4:2) war am Freitagabend, den 9. Juni 2006, in seiner Heimatstadt München gleichzeitig Startschuss fürs Sommermärchen. Der 40-Jährige ist die vergangenen Tage nicht müde geworden, immer wieder zu betonen, welche Chance in dem Turnier jetzt für Deutschland und Europa steckt. Dass man „weltoffen, friedlich und tolerant“ zusammenleben möchte. Aber wo ist die Leichtigkeit hin? 18 Jahre sind eben eine verdammt lange Zeit.
Der unverkrampfte Umgang mit der Deutschland-Fahne und all den schwarz-rot-goldenen Utensilien, die damals auf den Markt kamen: Vieles entstand spontan, von innen heraus. Viele sagen: Es kam aus dem Herzen. Wer jetzt solches Zeug kaufen will, muss im Supermarkt suchen – und es kann passieren, dass die Kassierer diese Artikel nicht einscannen können. Ein Sinnbild? Wer die Wimmelbilder von damals betrachtet, dem fällt als erstes ins Auge, was auf all den Aufnahmen fehlt: Handys hat niemand in der Hand.
Keiner hat damals Selfies gemacht, Videos erstellt – und alles in Echtzeit geteilt. Vielleicht haben sich die Menschen auch deshalb im Umfeld dieses Events so wohl gefühlt, weil sie den Augenblick voll erlebt haben. Momente des Glücks, die nicht mit Aufmerksamkeit in Sozialen Medien konkurrieren mussten. Das Internet-Zeitalter hatte damals ja gerade erst angefangen.
Von Pandemie bis Ukraine-Krieg dämpfen Krisen die Freude am Feiern
Auch eine Corona-Krise, bei der auf einmal Grundrechte für Monate nicht mehr gelten, schien damals unvorstellbar. Ebenfalls Flüchtlingsströme in nie dagewesener Größenordnung. Und eine folgende Stärkung des Rechtsextremismus in beängstigender Form. Auch einen Krieg auf europäischem Boden schien undenkbar. Alles aber ist Realität, und viele Menschen sprechen gar nicht mehr über schlaflose Nächte wegen vielfältiger Sorgen, ohne gleich in Extreme zu driften.
Deutschland scheint entzweit – und inzwischen überfordert mit Debatten, bei der beide Seiten sich Gehör schenken. Der Riss ist tief – weil oft der eine dem anderen nicht mehr zuhören will oder kann. Kann der Fußball da mehr bewirken? Der EM-Slogan heißt: „United by Football – Vereint im Herzen Europas“. Darin steckt die Hoffnung, dass dieser Volkssport möglichst viel Klebstoff liefert, weil er alle für eine gemeinsame Sache begeistert. Egal, welcher Herkunft, welcher Religion, welchen Alters. Doch nur weil ein Motto gut klingt, ist es noch nicht Realität.
DFB-Präsident Bernd Neuendorf hatte schon Recht, als er auf dem Sportbusinesskongress Spobis in Hamburg vor vier Monaten sagte: „Wir erleben eine multikrisenhafte Situation, die auf die Stimmung drückt.“ Die nie richtig ausdiskutierte Frage der Einwanderung, die seit 2015 Deutschland zu teilen scheint wie einst die Mauer, streift auch den Fußball, der Integration eigentlich immer vorlebt. Und auch der DFB kommt nicht in Verdacht, auch nur ansatzweise mit dem rechten Spektrum zu flirten.
Im Gegenteil. Der gebürtige Dürener Neuendorf ist bekennender Sozialdemokrat; er hat den DFB wieder zu einem Player im politischen Berlin gemacht – seine früheren Drähte helfen. Der 62-Jährige will die Wirkung des Turniers gesellschaftspolitisch aber gar nicht überhöhen: „Wir sind dazu da, Freude und Abwechslung zu bereiten. Es wird ein großes Fest, davon bin ich überzeugt.“
Dafür müssen einige Grundvoraussetzungen stimmen: Schönes Wetter wäre nicht schlecht, es muss gar nicht wie 2006 die ganze Zeit die Sonne vom Himmel strahlen. Wichtiger wäre, dass die nachhaltigen Verkehrskonzepte aufgehen, wofür vor allem die Deutsche Bahn einen halbwegs verlässlichen Transport gewährleisten muss. Zuletzt haben sich wieder Verspätungen und Ausfälle in einer Größenordnung angehäuft, die eher in Entwicklungsländern Alltag sind.
Die marode Infrastruktur ist die Bundesregierung wegen der EM 2024 nicht angegangen. Wie überhaupt die Zurückhaltung auffällt. Knapp 13 Millionen Euro vom Bund fürs Kulturprogramm sind nicht viel Geld gemessen an den erwarteten 65 Millionen Euro an Steuereinnahmen – und am Imagewert dieses weltweit zweitgrößten Sportereignisses nach den Olympischen Spielen in Paris.
Die Europäische Fußball-Union UEFA als Hauptprofiteur dieser Veranstaltung hätte auch 20 Millionen Tickets verkaufen können, so viele Anfragen lagen für die 2,7 Millionen elektronischen Eintrittskarten vor. „Insgesamt rechnen wir mit zehn bis zwölf Millionen Menschen, die ins Land kommen – mit oder ohne Ticket“, sagt Neuendorf.
Auch der Bundestrainer formuliert staatstragende Erwartungen
Als der Verbandsboss zu Beginn der EM-Vorbereitung im thüringischen Städtchen Blankenhain auf dem Podium auf die WM 2006 zurückblickte, erzählte er von seinen Fahrten mit dem Fahrrad in Fanmeilen und Kneipen und schränkte fast im selben Atemzug ein: „Ob wir das wieder erreichen, ist die Frage. Jedes Turnier hat seine eigene Geschichte.“
Dennoch formulierte Bundestrainer Julian Nagelsmann imMagazin „DFB aktuell“ fast staatstragende Erwartungen. Er habe den Eindruck, „dass sich in der deutschen Gesellschaft in den vergangenen Jahren schleichend ein Pessimismus eingenistet hat. Das Glas ist halbleer, wir konzentrieren uns oft auf das Negative“, sagte der 36-Jährige. „In der Vergangenheit waren der Fußball und die Nationalmannschaft oft Mittel, dies zu drehen. 1954 ist hier ein leuchtendes Beispiel.“ Mehr Auftrag für Trainer und Team geht fast nicht.
Das zeitlose Unikum Thomas Müller, das seit 2010 schon dabei ist – und mit 34 noch immer aussieht wie damals –, hält den Ball ein bisschen flacher. Sein Ziel mit einer DFB-Auswahl, die bei der letzten EM-Endrunde im Achtelfinale strauchelte und bei den letzten beiden WM-Turniere in der Vorrunde scheiterte: so zu performen, „dass es auch den kritischeren Geistern leichter fällt, uns zu applaudieren und zu lächeln“.
Michael Gabriel, der die Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) leitet, verfolgt einen ähnlichen Ansatz. „Ich würde ein wenig davor warnen, die EM 2024 an der wirklich außergewöhnlichen WM 2006 zu messen. Die gesellschaftliche Grundatmosphäre hat sich verändert. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa“, sagt der 60-Jährige. „Ich glaube, dass viele Leute heute mehr Sorgen haben. Was die Kraft des Fußballs trotzdem schaffen kann: ein Fenster für schöne Erlebnisse zu öffnen, um die Menschen zusammenzubringen.“
An dieser Stelle pflichtet ihm auch Oliver Bierhoff bei, der langjährige Manager der Nationalmannschaft. Gute Stimmung ja, Stimmungswandel nein. Der 56-Jährige, der alle Angebote abgelehnt hat, das Turnier irgendwo als Experte einzuordnen, erklärte kürzlich, was er von der EM 2024 erwartet: „Eine große Party mitten in Europa. Viel mehr wird es wohl nicht, dazu sind die Probleme im Land zu groß.“ Aber einige Wochen feiern, sei ja auch fein. In Frankfurt passen bis zu 30.000 Menschen auf die Fanmeile. Schon jetzt sagen viele: Sehr schön hier, aber viel zu klein.