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Interview

DRK-Präsidentin
Was muss sich in der Pflege ändern, Frau Hasselfeld?

Lesezeit 5 Minuten
DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt (Archivbild von 2017)

DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt (Archivbild von 2017)

Pflegebedürftige müssen immer mehr Geld für professionelle Betreuung ausgeben. Zugleich fehlen überall Fachkräfte, erste deutsche Regionen sind unterversorgt. Für DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt ist klar: Es darf nach der Bundestagswahl kein „Weiter so“ geben.

Die Bundestagswahl steht vor der Tür, soziale Themen scheinen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Macht Ihnen das Sorgen?

Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen im Wahlkampf nicht die Rolle spielen, die sie spielen sollten. Pflegebedürftige beispielsweise. Die Pflege ist ein Thema, das in den vergangenen Jahren kaum ernst genommen wurde, wo wir aber vor enormen Herausforderungen stehen. Die Sozialpolitik darf nicht zu kurz kommen.

Die angespannte Haushaltslage sorgt aber offenbar dafür, dass dem sozialen Bereich eher Einsparungen drohen.

Es werden derzeit viele Projekte auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ausgebremst. Das geht weit über die Pflege hinaus. Im sozialen Sektor wie in Kitas, aber auch in unseren Beratungsstellen spüren wir zudem den Fachkräftemangel.

Ließe sich der Fachkräftemangel mit mehr Geld einfach lösen?

Nein, aber viele Angebote werden nur für ein Jahr finanziert und stehen dann wieder auf der Kippe. Wir drohen da top ausgebildete Mitarbeitende zu verlieren, weil es an Planungssicherheit mangelt.

Welche Angebote sind von Einsparungen betroffen?

Wir laufen unter anderem Gefahr, wegen der Kürzungen nach und nach viele Angebote in der Integrationsberatung zu verlieren. Da geht es nicht allein um Asylsuchende, sondern auch um Menschen, die wegen einer neuen Erwerbstätigkeit in Deutschland sind. Generell wird aktuell sehr viel über Migration gesprochen und sehr wenig über Integration. Integration ist schon einmal in den 1970er Jahren komplett vernachlässigt worden, und die Folgen dessen sehen wir zum Teil bis heute.

Thema Pflege: Die Kosten werden für den Einzelnen immer höher, die Finanzierung gilt als reformbedürftig. Was muss sich in der Pflegepolitik ändern?

Man muss grundsätzlich anders an das Thema herangehen. Die Pflege ist unterfinanziert und wir haben einen Fachkräftemangel. Das führte bereits dazu, dass ganze Abteilungen geschlossen wurden und Einrichtungen Insolvenz anmelden mussten. In manchen Regionen ist die Versorgungssicherheit schon heute gefährdet.

Kann sich der Großteil der Pflegebedürftigen das Heim überhaupt noch leisten?

Zumindest stellen die Kosten sehr viele Menschen vor enorme finanzielle Herausforderungen, aber das betrifft nicht nur die stationären Pflegeeinrichtungen. Ein Großteil der Menschen lebt zu Hause. Und auch zahlreiche ambulante Dienste mussten wegen Tarif- und Kostensteigerungen die Preise erhöhen. Pflegebedürftige und Angehörige verzichten dann mitunter komplett auf die professionelle Pflege bzw. reduzieren ihre Leistungen massiv, was letztlich zur Unterversorgung führt.

Das DRK betreibt selbst rund 1000 ambulante Dienste und Heime. Drohen Insolvenzen?

Das ist nicht ausgeschlossen und kommt auf den Einzelfall an. Die Träger dieser Einrichtungen sind Kreisverbände, Landesverbände, Schwesternschaften. Wichtig ist, dass die Pflegebedürftigen auch im Anschluss gut versorgt werden.

Weit mehr als die Hälfte aller Pflegebedürftigen werden schon jetzt alleine von ihren Angehörigen zu Hause versorgt.

Ich gehe davon aus, dass das eher noch zunehmen wird. Die Pflege bleibt häufig komplett an den Familien, Freunden und Nachbarn hängen, obwohl das gar nicht die Wunschoption ist.

Werden diese pflegenden Angehörigen denn genug gehört?

Nein, diese große Gruppe war lange unter dem Radar, wahrscheinlich weil die Menschen so eingespannt sind, dass sie kaum Zeit für Lobbyarbeit haben. Ich habe selbst in der Familie erlebt, was für eine Belastung das sein kann. Den pflegenden An- und Zugehörigen gebührt unsere Aufmerksamkeit. Denn wir brauchen sie. Egal, was wir in der Pflege noch tun.

Haben Sie dazu konkrete Vorschläge?

Die Situation könnte man für die pflegenden Angehörigen auf vielfältige Art und Weise konkret verbessern. Man müsste zum Beispiel ernsthaft darüber diskutieren, ob Menschen, die ihren Beruf aufgeben, um Angehörige zu pflegen, nicht zumindest bei der Rente besser gestellt werden sollten als aktuell. Der bereits 2015 durch das Bundesfamilienministerium eingesetzte „Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“, in dem sich auch das DRK aktiv beteiligt, schlägt darüber hinaus eine Lohnersatzleistung für pflegende An- und Zugehörige vor. Aber Aufmerksamkeit heißt nicht zuletzt auch, dass man sie und die professionelle Pflege bei wichtigen politischen Entscheidungen einbindet. Die Praktiker verstehen einfach mehr von der Notlage als mancher Beamter. Nicht zuletzt muss die informelle Pflege besser professionell begleitet werden.

Sie selber haben als Gesundheitsministerin an der Einführung der Pflegeversicherung mitgewirkt. Mittlerweile muss sie regelmäßig vor dem Bankrott gerettet werden. Ist die Versicherung ein historischer Fehler?

Auf keinen Fall, die Einführung war gut und richtig. Es war damals auch nie die Frage, ob man aus der Pflegeversicherung eine sogenannte Vollkaskoversicherung macht, die für alle Leistungen zahlt. Die Grundsatzfrage damals war, ob es eine reine kapitalgedeckte Altersvorsorge werden muss, also jede Person für die Pflege allein vorsorgt, oder die soziale Teilkaskoversicherung, die wir heute haben, welche gewisse Kosten trägt. Die hat sich im Kern bewährt.

Wie könnte eine Reform aussehen?

Ziel muss eine nachhaltige Stabilisierung der Pflegeversicherung sein, mit einer kalkulierbaren Eigenbeteiligung der pflegebedürftigen Menschen. Deshalb schlagen wir einen sogenannten Sockel-Spitze-Tausch vor. Aktuell übernimmt die Versicherung einen festen Betrag und alles darüber zahlt der Pflegebedürftige. Das müsste genau umgekehrt sein, damit die Belastung nicht immer weiter steigt sowie kalkulierbar ist. Außerdem sollten die Länder ihrer Verantwortung bei der Pflege nachkommen. Sie sind verpflichtet, die Investitionskosten zu leisten, was sie nur unzureichend tun.

Also das Geld, das bei Pflegeheimen etwa für Instandhaltung genommen wird. Im Bundesdurchschnitt zahlen Pflegebedürftige etwa 500 Euro an Investitionskosten.

Genau, weil die Gesetzesformulierung derart schwammig ist, dass viele Länder die Zahlung den Pflegebedürftigen aufbürden. Auch deswegen kostet ein Platz in einer Pflegeeinrichtung so viel Geld. Ebenso wenig kann es angehen, dass medizinische Behandlungspflege bei Pflegebedürftigen automatisch von der Pflegeversicherung gezahlt werden muss, während es bei nicht Pflegebedürftigen die Krankenkassen machen.

Der aktuelle Minister Karl Lauterbach (SPD) hatte durchaus einige Ideen für die Pflege, konnte sich aber nicht immer durchsetzen. Haben Sie Hoffnung, dass sich das ändert?

Für die Zukunft sollte gelten: Bund, Länder, Kommunen und die Pflegeanbieter müssen gemeinsam an Lösungen arbeiten und sich treffen, einseitige Sichten helfen nicht. Es ist uns, auch zusammen mit den anderen Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, nicht gelungen, ein Gespräch mit dem Bundesgesundheitsminister zu führen. Er war dazu offenbar nicht bereit.