Es fehlen Geld, Personal und Zeit: Zur Pflegekrise ist alles gesagt, es ändert sich wenig – Zwei Experten sehen dennoch Lösungen und schildern sie im Rundschau-Interview.
Wege aus der Krise„Pflege muss in die Mitte der Gesellschaft, und zwar von Anfang an“
Wenige Branchen sind so von Krisen geschüttelt wie die Pflege. Heimbewohner zahlen horrende Eigenanteile, Pflegedienste suchen händeringend Fachkräfte, Angehörige reiben sich mit der Pflege ihrer Liebsten auf. Mit Zukunftsforscher Thomas Druyen, Präsident der Essener Opta Data Zukunftsstiftung, und Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, sprach Stephanie Weltmann über die Lage.
In der Pflege fehlen Geld, Personal und Zeit. Das ist alles seit Jahren bekannt, aber für die Beschäftigten ändert sich wenig. Ist das nicht wahnsinnig frustrierend, Frau Vogler?
Vogler: Das Wegsehen ist gewaltig. Wer heute noch nicht mit Pflege zu tun hat, ahnt nicht im Geringsten, was auf ihn und uns zukommt. Alle sprechen von einer Pflegekatastrophe. Die Katastrophe ist aber, dass wir die Dinge bislang nicht verändern. Dabei können wir das Ruder noch herumreißen. Dafür zu kämpfen, frustriert am Ende nicht.
Druyen: Frust hilft ja nicht weiter. Aber richtig ist: Wir leben in einer Zeit, in der man die Zukunft früh kennt und sie trotzdem ignoriert. Zur Pflegekrise ist alles gesagt. Trotzdem warten wir ab, statt Lösungen anzugehen, die ja da sind.
Wie lässt sich das Abwarten durchbrechen?
Druyen: Als Erstes gilt es, die Bedeutung von Pflege anzuerkennen. Für viele ist Pflege immer noch tabuisiert, fast peinlich. Dabei ist es die vornehmste menschliche Tugend, pflegerisch tätig zu sein. 1,4 Millionen Menschen in Deutschland pflegen und gehen damit vorbehaltlos auf andere zu. Darin steckt eine unglaubliche gesellschaftliche Kraft, die wir nicht nutzen.
Vogler: Pflege muss in die Mitte der Gesellschaft, und zwar von Anfang an. Wir brauchen an den Schulen endlich Gesundheitspflegekräfte, die von Anfang an mit Kindern und Eltern über Gesundheit, Sucht, Ernährung und Fürsorge sprechen. Im Katastrophenschutz gehören Pflegekräfte mit an den Tisch, Pflegefachpersonen sollten so wie Kontaktbeamte der Polizei vor Ort in den Stadtteilen sein. Diese kleinen Schritte sind schnell umsetzbar und sie helfen.
Bis zum Jahr 2030 werden rund 500000 Pflegekräfte in Deutschland fehlen. Ist das überhaupt aufzufangen?
Druyen: Pflegekräfte leisten eine unglaubliche Arbeit, aber wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass sie uns aus der Krise retten. Pflege ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe, an der wir alle mitarbeiten müssen. Pflege wird nicht mehr lange funktionieren, wenn wir unsere Nachbarn nicht kennen.
Wie hoch ist die Bereitschaft zur Eigenverantwortung?
Druyen: Wir wissen ja um die vielen pflegenden Angehörigen und es gibt viele Menschen, die bereits für andere Verantwortung übernehmen. Aber: Wir haben eine Studie zu den Babyboomern gemacht. 82 Prozent von ihnen sagen, dass sie nicht finanziell für ihre Pflege vorsorgen. Man kann das in gewisser Weise nachvollziehen, diese Menschen haben 40 Jahre lang gearbeitet und Steuern gezahlt, da möchten sie auch mal etwas in Anspruch nehmen. Nur: Wir sind am Ende dieser Wahrnehmungsmöglichkeit, weil auf die 19 Millionen Babyboomer geburtenschwächere Jahrgänge folgen. Die werden die Versorgung nicht bezahlen können.
Was schlagen Sie denn konkret vor?
Vogler: Wir brauchen mutige Vorschläge, z. B. flexiblere Rentenkorridore, damit diejenigen, die fit sind, auch unkompliziert länger arbeiten können. Und diejenigen, die in Rente gehen, dürfen sich nicht gesellschaftlich verabschieden. Davon gibt es zu viele.
Welche Rolle spielt KI bei der Lösung der Krise?
Druyen: Heute befassen sich Pflegekräfte zu 50 Prozent ihrer Zeit mit der überbordenden Bürokratie. Die ist aberwitzig und nicht nötig, weil es für all diese Arbeiten künstliche Intelligenzen gibt. Und ich gehe weiter: Warum darf etwa der Rettungsdienst nicht die Vitaldaten auswerten, die die Smartwatch eines Patienten aufgezeichnet hat? Damit kann Rettung im Moment des Notrufs beginnen.
Vogler: In zehn Jahren wird noch etwa die Hälfte der jetzt beruflich Pflegenden im Job sein, der Rest geht in Rente. Wir brauchen also Unterstützungssysteme. Wir kennen schon jetzt Teppiche, die wissen, ob jemand zu Hause gestürzt ist, und Inkontinenzmaterial, das angibt, wann es gewechselt werden muss. Beides würde pflegenden Angehörigen oder anderen Personen, denen man vertraut, helfen, einen Notfall zu erkennen. Datenschutz ist wichtig, der persönliche Schutz aber auch.
Sie fordern in Ihrem Buch, dass Qualität in der Pflege ins Grundgesetz gehört. Was würde das ändern?
Vogler: Pflege ist ein Menschenrecht, deshalb gehört es in die Verfassung. Was im Grundgesetz steht, muss in der Folge bei allen Gesetzen beachtet werden, bis hinunter in die Kommunen. Die Behandlung des Pflegeberufes geht einher mit schlechter Bezahlung, schlechten Bildungswegen und schlechter gesellschaftlicher Anerkennung. Ein Grundrecht auf pflegerische Versorgung holt dieses Thema ins Zentrum der Gesellschaft.
Druyen: Die gesetzliche Verankerung würde auch dem Pflegeberuf im Gesundheitssystem eine andere Stellung vermitteln. Und sie würde ein Zeichen an die Jugend senden: Ja, das ist ein höchst aktueller, relevanter, herausragender Gestaltungsberuf.
Gefährdet die aktuelle Pflegekrise auch die Demokratie in Deutschland?
Vogler: Absolut. Wenn in einer akuten Notsituation etwas nicht funktioniert, stellen die Menschen die Frage: In welcher Gesellschaft lebe ich? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Mutter soll vom Krankenhaus ins Heim, es gibt keinen Platz. Also pflegt man selbst, reduziert die eigene Arbeit, ist erschöpft und hat am Ende weniger Rente. Dann geht man vor die Tür, sieht kaputte Radwege und wartet auf die verspätete Bahn. Das summiert sich.
Druyen: Die Zukunft der Pflege ist eng mit der Zukunft unserer Gesellschaft verknüpft. Sie ist Menschenrecht, aber auch eine Menschenpflicht, und das muss natürlich gesetzlich verankert sein.