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Menschen verlieren HoffnungWarum die Zahl türkischer Asylbewerber in Deutschland rasant ansteigt

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Istanbul: Menschen gehen am Vorabend des 100. Jahrestages der Gründung der Türkischen Republik auf der mit türkischen Flaggen geschmückten Istiklal-Straße entlang.

Istanbul: Menschen gehen am Vorabend des 100. Jahrestages der Gründung der Türkischen Republik auf der mit türkischen Flaggen geschmückten Istiklal-Straße entlang.

Viele Türken sehen in der Türkei keine Zukunft mehr und verlassen das Land. Viele von ihnen wollen nach Deutschland.

Can, ein Familienvater aus Istanbul, hat seine Entscheidung getroffen. „Das ist nicht mehr das Land, das ich kenne“, sagt er. In der Türkei sehe er keine Zukunft mehr für sich und seine Tochter. Can (Name geändert) hat deshalb beschlossen, seine Heimat mit Frau und Kind zu verlassen. Tausende seiner Landsleute denken ähnlich – und viele von ihnen wollen nach Deutschland. Die Zahl türkischer Asylbewerber in der Bundesrepublik von Januar bis September ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als 200 Prozent gestiegen.

Bei den Asylbewerbern liegen nur Syrer und Afghanen zahlenmäßig vor den Türken. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zählte bis September rund 35300 Erstanträge auf Asyl von türkischen Staatsbürgern; das waren 204 Prozent mehr als die 11600 Anträge im Vorjahreszeitraum. Schon in den ersten neun Monaten dieses Jahres meldeten sich deutlich mehr Türken mit einem Antrag als die knapp 24000 türkischen Asylbewerber im gesamten Jahr 2022. Und auch das war schon ein Anstieg um 240 Prozent zu 2021.

Enttäuschung nach Wahl

Das autokratische System unter Präsident Recep Tayyip Erdogan und die schlechte Wirtschaftslage sind die Hauptgründe für die Abwanderung vieler Türken. Viele dürften noch die Wahlen im Mai abgewartet haben, bei denen die Opposition auf einen Sieg über Erdogan gehofft hatte, die Wende aber nicht schaffte.

„Die sich zunehmend verschlechternde Situation raubt Millionen von Menschen die Hoffnung für die Zukunft“, sagt der türkische Abgeordnete Mustafa Yeneroglu, der in Köln aufwuchs, lange Mitglied in Erdogans Partei AKP war und heute für die Oppositionspartei Deva im Parlament von Ankara sitzt. „Betroffen sind in erster Linie Rechtsstaatlichkeit, Wirtschaft und Bildung. Staatliche Repressionen und Willkür bei der Ausübung von Staatsgewalt haben zugenommen, Korruption und Vetternwirtschaft kommen hinzu“, sagte Yeneroglu unserer Zeitung.

Wer politisch verfolgt werde, habe häufig keine Chance auf ein faires Verfahren, fügte Yeneroglu hinzu. Fast jede Woche nimmt die Polizei angebliche Staatsfeinde fest, denen Mitgliedschaft in der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen oder in der kurdischen Terrororganisation PKK vorgeworfen wird. Vorige Woche wurden ein Dutzend mutmaßliche Gülen-Anhänger beim Versuch gefasst, aus der Westtürkei über das Meer nach Griechenland zu fliehen.

Deutschland hat in puncto Rechtsstaatlichkeit einen guten Ruf in der türkischen Bevölkerung. Deshalb fliehen Menschen, die verzweifelt sind, nach Deutschland.
Mustafa Yeneroglu, Abgeordneter der türkischen Oppositionspartei Deva

Theoretisch haben politisch Verfolgte die Möglichkeit, ihren Fall dem Europäischen Menschenrechtsgericht vorzulegen, an dessen Urteile sich die Türkei als Mitglied des Europarats halten muss. Doch Erdogans Regierung weigert sich in mehreren Prozessen, politische Häftlinge auf Anordnung der Europarichter freizulassen. Hinzu kommt, dass viele Türken finanziell nicht mehr über die Runden kommen. Die Inflation liegt bei über 60 Prozent, die Lira verliert gegenüber Euro und Dollar ständig an Wert. Vor allem junge Türken streben ins Ausland. In einer Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung unter Türken im Alter zwischen 18 und 25 Jahren bezeichneten fast neun von zehn Befragten die wirtschaftliche Lage als schlecht – zwei von drei sagten, sie würden ins Ausland gehen, wenn sie könnten. Deutschland war das beliebteste Zielland.

Das liegt nicht nur daran, dass schon drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland leben und dass die Bundesrepublik ein wirtschaftlich starkes Land ist. Yeneroglu nennt noch einen anderen wichtigen Grund: „Deutschland hat in puncto Rechtsstaatlichkeit einen guten Ruf in der türkischen Bevölkerung“, sagt er. „Deshalb fliehen Menschen, die verzweifelt sind und keinen anderen Ausweg für sich sehen, nach Deutschland. Sie erhoffen sich ein faires Verfahren, das man in aller Regel auch bekommt.“

Viele Akademiker wollen weg

Unter den potenziellen Auswanderern sind viele Ärzte und andere Akademiker. Als das Gesundheitsministerium jetzt 3000 Ärzte für Posten in staatlichen Einrichtungen suchte, meldeten sich laut Medienberichten keine Tausend mehr. Die deutschen Behörden reagieren auf die steigende Zahl der Asylbewerber, indem sie weniger Reisevisa an Türken vergeben. Für 44 Prozent der Deutschen ist das Thema Migration laut der neuen Deutschlandtrend-Umfrage der ARD das wichtigste politische Problem.

Nur eine neue europäische Perspektive für die Türkei könnte die Lage verbessern, sagt Oppositionspolitiker Yeneroglu. Deutschland und die EU sollten die Türkei bei der „Rückkehr zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit“ unterstützen. Wichtig sei vor allem, dass der Türkei „die Tür zur EU nicht zugeschlagen wird“. Der türkische EU-Beitrittsprozess liegt seit Jahren de facto auf Eis, neue Gespräche sind nicht geplant. Yeneroglu plädiert dafür, die EU-Perspektive trotzdem nicht aufzugeben: Sie sei „nach wie vor ein Hoffnungsanker für Millionen von Menschen“.