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100 Jahre Türkische RepublikWie am Taksim-Platz in Istanbul Geschichte greifbar wird

Lesezeit 7 Minuten
Huldigung an den Staatsgründer Kemal Atatürk: Das Denkmal der Republik auf dem Taksim-Platz.

Huldigung an den Staatsgründer Kemal Atatürk: Das Denkmal der Republik auf dem Taksim-Platz.

Aus den Überresten des Osmanischen Reichs schuf Mustafa Kemal Atatürk 1923 einen neuen, modernen Staat. Dessen wechselvolle Geschichte ist nirgends im Land so greifbar wie am Istanbuler Taksim.

Auf dem Taksim-Platz drängen sich die Menschen. Autos hupen, die Trambahn klingelt, Leute rufen – still ist es nie hier im Zentrum von Istanbul, wo sich die Wege von Schulkindern, Rentnern, Arbeitern, Geschäftsleuten und Touristen aus allen Ecken der Türkei und der Welt kreuzen. Der Taksim ist der Nabel der Türkischen Republik, die an diesem Sonntag, dem 29. Oktober, hundert Jahre alt wird. Wie kein anderer Ort in der Türkei spiegelt der Platz die Geschichte dieses Staates.

Am Denkmal der Republik auf dem Taksim erweisen Besucher aus dem ganzen Land dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ihre Reverenz, indem sie Selfies vor dem Denkmal schießen. Der 28-jährige Muhammed Ali ist aus dem südtürkischen Isparta gekommen, um es seiner Frau Ayse zu zeigen. „Dieses Denkmal ist unsere Freiheitsstatue“, sagt er. „Dass unsere Republik nun hundert Jahre alt wird, das ist eine unbeschreibliche Freude - da wird mir heiß und kalt.“

Atatürk hat uns die Republik gegeben, er hat uns Frauen das Wahlrecht gegeben und die Gleichberechtigung, deshalb lieben wir ihn.
Ayse Ceylan, Istanbul-Besucherin aus Izmir

Das Denkmal zeigt Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gleich zweimal: Nach Norden marschiert er in Militärunform seinen Soldaten im Unabhängigkeitskrieg vor 1923 voran; nach Süden schreitet er als Staatsmann nach 1923 im Frack daher. Ein Ehepaar von Anfang 50 umrundet das Denkmal voller Ehrfurcht. Ahmet und Ayse Ceylan sind aus dem westtürkischen Izmir angereist: „Dieses Denkmal bedeutet uns mehr, als ich sagen kann“, meint Ahmet. „Atatürk hat uns die Republik gegeben, er hat uns Frauen das Wahlrecht gegeben und die Gleichberechtigung, deshalb lieben wir ihn“, sagt Ayse.

Um mehr über Atatürk und seine Republik zu erfahren, müssen wir nur ein paar hundert Meter mit der knallroten Bimmelbahn fahren, die direkt vor dem Denkmal abfährt.

Atatürk stellte Frauen den Männern gleich

Die Fahrt geht den Boulevard der Unabhängigkeit entlang zum Sitz des „Vereins zur Förderung Modernen Lebens“, dem Hauptquartier der Bannerträger von Atatürk. Hier stehen Büsten des Staatsgründers auf den Fensterbänken aufgereiht.

Türkei, Istanbul: Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan rufen bei einer Demonstration gegen den gescheiterten Putschversuch auf dem Taksim Platz Parolen und halten türkische Flaggen.

Türkei, Istanbul: Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan rufen bei einer Demonstration gegen den gescheiterten Putschversuch auf dem Taksim Platz Parolen und halten türkische Flaggen.

Ayse Yüksel ist die Vorsitzende des Vereins. In präzisen, geschliffenen Sätzen spricht die Medizin-Professorin über ihre Arbeit und über die Bedeutung der Republik für sie: „Dank dieser Republik habe ich als Frau studieren können, einen Beruf erlernen können, einen Arbeitsplatz bekommen und am Arbeitsleben teilhaben können.“ Für Yüksel besonders wichtig ist, dass Atatürk nach der Republiksgründung vom 29. Oktober 1923 die Frauen den Männern gleichstellte. „Vorher waren wir Frauen nichts als Sklavinnen.“

Wir hatten eines der besten Länder der Welt, aber heute machen wir täglich weiter Rückschritte, was Freiheit, Rechte und Gerechtigkeit angeht.
Muhammed Ali, Istanbul-Besucher aus Isparta

Dreh- und Angelpunkt der Revolution von Atatürk sei die Bildung gewesen, sagt die Professorin. Ihr Verein fördert deshalb aus Spendengeldern jährlich Tausende Schülerinnen mit Stipendien, damit sie das Gymnasium besuchen und studieren können. Zum 100. Geburtstag der Republik hat der Verein sein Ziel von 100000 vergebenen Stipendien erreicht. Trotzdem fürchtet die Professorin um Atatürks Erbe. „Heute besteht die Gefahr, dass diese Republik durch einen religiösen oder religiös orientierten Staat ersetzt wird.“

Der Boulevard der Unabhängigkeit führt zum Taksim zurück; viele der eleganten Bauten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert an der Einkaufsstraße wurden von Griechen, Juden, und Armeniern gebaut, die früher hier lebten. Heute flanieren Touristen die Straße entlang, an der das multikulturelle Zusammenleben in der Türkischen Republik im Jahr 1955 ein jähes Ende nahm – als Lynchmobs in einer Septembernacht hier Geschäfte, Wohnhäuser und Kirchen plünderten und die alteingesessenen Minderheiten vertrieben. Heute leben nur noch wenige Griechen, Juden und Armenier in der Türkei.

Ein Putsch, der bis heute nachwirkt

Die Pogrome von 1955 waren eine Wegscheide für die Türkei, ebenso wie die Staatsstreiche der Militärs 1960, 1971 und 1980. Besonders der Putsch von 1980 wirkt bis heute nach, sagt Arzu Cerkezoglu. Die 54-jährige, die am Taksim aus einem Auto springt, ist Vorsitzende des Revolutionären Gewerkschaftsbundes der Türkei, kurz DISK. Für die Gewerkschafter hat der Taksim eine tragische Symbolkraft – seit dem 1. Mai 1977, als Scharfschützen am Tag der Arbeit das Feuer auf Hunderttausende Arbeiter auf dem Platz eröffneten. „Die ersten Schüsse kamen von da drüben, wo jetzt die Moschee steht – das war damals die Wasserbehörde“, sagt Cerkezoglu. „Auch aus dem Hotelhochhaus hier auf dieser Seite wurde geschossen. Viele Menschen wurden in der Massenpanik erdrückt und von Polizeifahrzeugen zerquetscht. 34 Menschen ließen ihr Leben, Hunderte wurden verletzt.“ Drei Jahre nach dem Massaker ergriffen die Generäle die Macht. DISK wurde verboten, Tarifverträge wurden ausgesetzt, die Löhne gekürzt.

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan halten am 16.07.2016 auf dem Taksim Platz in Istanbul, Türkei, eine riesige türkische Fahne. In der Nacht hatte das türkische Militär versucht, die Macht zu übernehmen.

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan halten am 16.07.2016 auf dem Taksim Platz in Istanbul, Türkei, eine riesige türkische Fahne. In der Nacht hatte das türkische Militär versucht, die Macht zu übernehmen.

DISK wurde 1992 wieder zugelassen, doch die Arbeiterrechte wurden nicht wieder hergestellt, sagt Cerkezoglu. Auch den Tag der Arbeit dürfen die Gewerkschaften nicht mehr auf dem Taksim feiern. Der Platz wird alljährlich am Vorabend des 1. Mai abgeriegelt.

Mit Polizei-Absperrungen am Taksim kennt sich auch Yonca Verdioglu aus. Wir treffen sie an den Stufen, die vom Taksim-Platz zum Gezi-Park führen. Die Bezeichnung Park ist etwas übertrieben für diesen Grünflecken in der Betonwüste von Istanbul, knapp 300 Meter lang und 150 Meter breit und teilweise von einem Hotelhochhaus besetzt. „Der ganze Platz hier war mit Zelten voll. Unser feministisches Zelt war genau hier“, sagt Yonca Verdioglu. Von den Gezi-Protesten im Frühjahr 2013 erzählt sie, als Demonstrationen gegen die Abholzung von Bäumen im Gezi-Park zu Massenprotesten gegen die Regierung eskalierten. Verdioglu war vom ersten Tag an dabei. Linke, Nationalisten, Kurden, LGBTI-Aktivisten und Feministinnen wie sie selbst begehrten im Park gemeinsam gegen die zunehmend autoritären Tendenzen der Regierung von Recep Tayyip Erdogan auf.

Blutige Demonstrantionen im Gezi-Park

Zweieinhalb Wochen lang hielten sich die Demonstranten im Gezi-Park, am 15. Juni räumt die Polizei das Lager. Tote und Verletzte gab es dabei. Yonca Verdioglu wurde von Polizisten im Reizgas festgehalten. Schmerzhafter als die blauen Flecken sei aber die Enttäuschung ihrer Hoffnungen gewesen, erzählt sie. Die 50-jährige zählt die Rückschläge des vergangenen Jahrzehnts auf: das Ende des Friedensprozesses mit den Kurden, der Austritt der Türkei aus dem Europaratsabkommen zum Schutz der Frau, die Verhaftung des Kulturförderers Osman Kavala und anderer Bürgerrechtler wegen der Gezi-Proteste.

Trotzdem wolle sie nicht resignieren, sagt Verdioglu. „Es ist natürlich nicht einfach, in diesem Land zu leben. Aber ich weiß auch, dass es nicht einfach ist, in einem fremden Land ein neues Leben aufzubauen und zu leben. Daher werden wir weiterkämpfen.“

Gegenüber vom Gezi-Park weihte Erdogan vor zwei Jahren eine gewaltige Moschee mit Raum für 4000 Gläubige ein, die heute den Platz dominiert. Sengül Kazanir freut sich immer darüber, wenn sie über den Platz geht.   Als Ortsvorsitzende des Frauenverbandes von Erdogans Regierungspartei AKP läuft sie von früh bis spät durch diesen Stadtbezirk.

Wie die Atatürk-Verehrerin Yüksel engagiert sich Kazanir für die Bildung – aber aus anderen Gründen. Die 52-jährige schließt gerade ihr Studium ab. Warum erst jetzt? Kazanir zupft an dem cremeweißen Schal, mit dem ihr Haar verhüllt ist. Als junge Frau habe sie in den 90er-Jahren mit Kopftuch nicht studieren dürfen, erinnert sie. Vor 21 Jahren an die Regierungsmacht gewählt, schaffte die AKP die Kopftuchverbote ab. „Wir leben in der freiesten Zeit, die das türkische Volk je gekannt hat“, sagt Kazanir.

Die Lokalpolitikerin kennt die europäische Kritik an ihrer Auffassung von Freiheitsrechten, doch sie werde von der Mehrheit der Türken nicht geteilt, sagt sie. „Das haben wir beim Putschversuch von 2016 gesehen, als die Jugend dieses Landes sich den Putschisten entgegengestellt hat.“

Agdas, ein Schneider, saß an jenem Abend mit seinen Nachbarn in der Nähe vom Taksim zusammen, als Staatspräsident Erdogan im Fernsehen erschien und forderte, die Türken sollten gegen den Putschversuch auf die Straße gehen. „Da sind wir seinem Aufruf gefolgt und zum Taksim gelaufen.“ Dort hatten die Soldaten das Denkmal umstellt, vor ihnen versammelte sich eine Menschenmenge. Die Offiziere ließen die Soldaten auf den Boden schießen – von den abprallenden Kugeln wurden viele Menschen verletzt. „Und zwei oder drei Leute wurden so wie ich direkt getroffen“, sagt Agdas. Im Krankenhaus erfuhr er, dass sich die Soldaten ergeben hatten. „Damit war der Putsch beendet. Wir hatten es geschafft.“ Heute sei die Türkei ein freies Land.

Muhammed Ali, der 28-jährige aus Isparta, ist skeptisch. „Wir hatten eines der besten Länder der Welt, aber heute machen wir täglich weiter Rückschritte, was Freiheit, Rechte und Gerechtigkeit angeht. Nein, ich sehe keine gute Zukunft für uns. Ich wünschte, wir könnten wieder so sein wie zu Atatürks Zeit.“