Wirtschaft, Migration und Sicherheit werden den Wahlkampf thematisch prägen. Die Pflege droht hintenüberzufallen. Warum ist das so? Eine Ursachen-Suche.
Rundschau-Debatte des TagesWird Pflege im Wahlkampf zu wenig behandelt?
Bei zahlreichen Unternehmern aus dem Pflegesektor dominiert in diesen Tagen der Missmut. „Es liegen zu viele Sachen gleichzeitig im Argen“, meint Maik Wolff, Inhaber eines Pflegedienstes. Wolff ist Vorsitzender des vor allem aus privaten und ambulanten Pflegediensten bestehenden Vereins „Zukunftsfeste Pflege“ und hat 2024 zum ersten Mal zum „Bürgerdialog Pflege“ geladen. Stundenlang diskutierten Experten auf der Bühne unter anderem mit der Sozialministerin Mecklenburg Vorpommerns, Stefanie Drese (SPD), im Publikum redeten sich Besucher aus dem Pflegesektor den Frust von der Seele: Bürokratie, schlechte Infrastruktur, Arbeitsbelastung. Keine unbekannten Themen, deren Lösung für viele noch immer nicht sichtbar ist. Die Vereinsmitglieder sind zwar zufrieden mit der zurückliegenden Auftaktveranstaltung, doch mit Blick auf die Politik überwiegt der Missmut.
Welche Partei kann die Pflege in Deutschlnad retten?
Gemurmel, Schulterzucken. „Am besten wäre, wenn die Politik sich einfach mehr heraushält“, entgegnet ein anderer Unternehmer mit Blick auf Mindestlöhne, Personalquoten und andere gesetzliche Bestimmungen, die ins Geld gehen. Kopfnicken. Beteiligte werden aktiv Doch die Politik kann sich nicht heraushalten, das wissen die Unternehmer auch. Im Gegenteil, sie müsste noch viel aktiver sein, um eine drohende Pflegekatastrophe zu verhindern. Zu verhindern, dass Pflegebedürftige menschenunwürdige Bedingungen vorfinden.
Die soziale Pflegeversicherung sollte einst vor Altersarmut schützen. Das schafft sie schon jetzt nicht mehr, immer mehr Menschen sind wegen der hohen Pflegekosten auf Sozialhilfe angewiesen. Und so diskutiert der Verein das ganze Jahr in Mecklenburg-Vorpommern bei insgesamt 20 Veranstaltungen mit den Bürgern, um die Bevölkerung für den Pflegenotstand zu sensibilisieren.
Welche Ansätze für das Problem gibt es bereits?
Mit einem Regionalen Kompetenzzentrum („ReKo“) haben sich Pflege-Akteure, die Krankenkasse DAK und die Universität Osnabrück in einem Pilotprojekt lokal vernetzt – und so die undurchsichtige Pflege-Praxis für die Menschen der Region entwirrt und damit zumindest die Zugänglichkeit erleichtert. Mittlerweile gibt es in anderen Bundesländern ähnliche Projekte nach diesem Vorbild. Der Erfolg ist ein Indiz für das Problem, dass es allgemein in der Pflege gibt: zu viel Misstrauen, zu wenig Miteinander.
Was alle Beteiligten eint: Sie werden selbst aktiv, statt auf die Politik zu warten. Denn das Warten hat sich ihren Erfahrungen nach als maximal unwirksam erwiesen. In allen Programmen für die Bundestagswahl findet die Pflege zwar einen Platz: Die Vereinheitlichung von gesetzlicher und privater Versicherung fordert etwa die SPD, die Union will mehr private Vorsorge. Dazu gesellen sich gängige Ideen: mehr ausländische Fachkräfte, neue Wohnformen, Bürokratieabbau. Doch die gab es in der Vergangenheit auch. Und Parteien tun sich mit der Pflegepolitik schwer, erst recht, wenn sie damit auf Stimmenfang gehen müssen. Es müssten Milliarden investiert werden, um die Pflege-Infrastruktur wieder auf ein auskömmliches Niveau zu bringen.
Wie geht die Politik bisher im Wahlkampf mit dem Thema um?
Nicht nur aus Reihen der Sozialpolitiker der Union ist zu hören, dass man bei der Pflege mit den Haushaltsfachleuten meist über Kreuz liege. Zumal der Bund alleine gar nicht zuständig ist. Die Länder müssen für die nötigen Pflege-Plätze sorgen, Pflegekassen die Pflege sicherstellen. Es ist also leicht, die Verantwortung woanders zu suchen. Pflege sei für Parteien ein „Verliererthema“, sagt Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege. „Alter, Krankheit, prekäre Familiensituationen: In der Pflege geht es um die härtesten Realitäten unseres Lebens. Das verdrängt die Politik.“
Dabei gebe es gute Gründe, das Thema prominent zu platzieren, sagt Vera Lux. Die Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) hebt hervor, dass Pflege „elementar den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und viele Menschen betreffe. Dass es die Parteien zum Wahlkampfthema machen, glaubt sie allerdings nicht. Das liege nicht zuletzt auch an den Wählern selbst. Es bleibe ein Thema, das viele gerne verdrängen. „Den meisten Menschen wird die Relevanz von guter Pflege erst bewusst, wenn sie sie selbst benötigen“, meint Lux.
Wie ist die Lage in der Pflege im Moment?
„Bis jetzt ist die Dramatik des Pflegenotstands offensichtlich noch nicht in den Parteien angekommen“, konstatiert der Verein „wir pflegen“, der pflegenden Angehörigen endlich eine Stimme geben will. Fünf von sechs Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt, viele davon allein durch Freunde und Verwandte, die dafür nicht selten ihre Arbeitszeit reduzieren und ihre eigene Gesundheit gefährden.
Wenn etwa die SPD zum Wahlkampfauftakt einen Pflegedeckel – die Begrenzung von explodierenden Heimkosten – ankündigt, hilft ihnen das kaum. Die Eigenanteile für ambulante Dienste werden ebenfalls teurer, etwa aufgrund höherer Löhne für die Mitarbeiter. Gleichzeitig mangelt es weiter an Entlastungsangeboten, die Angehörigen etwas Luft verschaffen, beklagt „wir pflegen“.
In der Debatte sind die pflegenden Angehörigen eine Bereicherung. Zugleich sind sie ein weiterer Akteur, den die Politik im Pflegesystem im Blick behalten muss. Die Pflege spricht selten mit einer Stimme: Pflegeeinrichtungen wollen mehr unternehmerische Freiheit und effizientere zahlende Kassen, Fachkräfte mehr Geld, Pflegekassen strukturelle Verbesserungen bei Finanzierung und Versorgung, bestenfalls ohne die eigene Macht der Selbstverwaltung zu beschneiden. Alle haben ihre eigenen Interessen und Vorstellungen, wie man die Pflege retten und stärken kann, personell, finanziell und qualitativ. Für die naturgemäß kompromissorientierte Politik gibt es da wenig zu gewinnen.
Die Entlohnung von Pflegefachkräften ist da nur ein Beispiel. Viel zu lange hat die schlechte Bezahlung den Beruf unattraktiv gemacht. Der Gesetzgeber sorgte zu spät unter anderem mit einem Tariftreuegesetz dafür, dass Heime und Dienste ihre Mitarbeiter besser bezahlen. Zugleich legte die Politik auch Fachkraftquoten fest, um die Qualität der Pflege zu verbessern. Beides war auch gesellschaftlich gefordert. Die fachliche Qualität stieg, aber Pflegebedürftige wurden teilweise die Ausbildungskosten aufgebürdet. Der Lohn der Beschäftigten stieg, noch mehr Arbeitnehmer gingen in Teilzeit. Die Pflegedienstleister müssen sich die gestiegenen Ausgaben bei den Kassen zurückholen – das lief nur schleppend. Tausende Pflegeplätze fielen weg, weil Anbieter aufgaben.
„Die Politikerinnen und Politiker gehen offenbar davon aus, dass Pflegeheime, Tagespflegen und ambulante Dienste einfach so immer da sind. Das ist ein Irrtum, den viele Betroffene heute schon spüren“, sagt Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste. Es gehe inzwischen wirklich nur darum, mit den vorhandenen Ressourcen so umzugehen, dass die Politik weniger Betroffene im Stich lässt als heute.
Welche Lehren können aus den Verbesserungen gezogen werden?
Die Lehre aus den Folgen der besseren Bezahlung für Pflegekräfte: Eine verantwortungsvolle Pflegepolitik kann sich nicht um einzelne Bausteine kümmern. Der Arbeitgeberverband Pflege will auch deswegen ein eigenes Pflegeministerium auf Bundesebene. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Wenngleich der Ampel bei der Pflege wenig gelang, hatte der viel gescholtene Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) richtige Ansätze. Er wollte etwa die Kompetenzen der Pflegekräfte stärken, die zu oft selbst bei kleinen Maßnahmen auf die Entscheidungsgewalt von Ärzten angewiesen sind. Nur bringen solche Ansätze wenig, wenn sich diese – in der Koalition oder gegen die Länder – nicht durchsetzen lassen. Erhoffte Gesetze zur Verbesserung der Alten- und Langzeitpflege blieben auf der Strecke.