Die für den Jahresbeginn geplante Erhöhung des Bürgergelds ist umstritten – vor allem wegen der prekären Lage des Bundeshaushalts. Michaela Engelmeier warnt deshalb vor einer „Neiddebatte“.
Sozialverband-Chefin im InterviewMuss der Sozialstaat nun schrumpfen?
Michaela Engelmeier war mal Mitglied der Nationalmannschaft im Judo. Auch wenn es um Sozialleistungen für die Schwächsten in der Gesellschaft geht, scheut die Vorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) den Nahkampf nicht. Was erwartet sie in der aktuellen Lage von der Bundesregierung?
Frau Engelmeier, ist die Anhebung des Bürgergelds um 12 Prozent gerechtfertigt, wenn der Staat sparen muss und viele Branchen trotz Inflation keine Löhne erhöhen?
Die Erhöhung des Bürgergelds ist absolut notwendig, sie müsste eigentlich noch höher ausfallen. Ich erwarte, dass die Bundesregierung hier Wort hält und nicht umkippt. Es sind 61 Euro mehr für Alleinstehende, also steigt der Regelsatz auf 563 Euro plus Wohnkosten. Das sind 1010 Euro zusammengerechnet für Singles. Das Grundgesetz schreibt vor, dass die Menschen wenigstens das Existenzminimum bekommen. Da die Preise erheblich angestiegen sind, wird dies nun durch die standardmäßige Heranziehung der Inflation aus 2022 korrigiert. Da gerade Energie und Lebensmittel im zweistelligen Bereich teurer wurden, kommt man auf 12 Prozent. Das ist doch nicht viel Geld. Für Lebensmittel werden im Regelsatz aktuell 174 Euro im Monat veranschlagt. Damit auszukommen ist nicht einfach.
FDP und Union kritisieren, dass der Lohnabstand zwischen Bürgergeld-Empfängern und Geringverdienern dahinschmilzt. Ist es gerecht, wenn der, der arbeitet, kaum mehr hat als der, der nicht arbeitet?
Ich bin empört darüber, wie Union und FDP eine Neiddebatte anheizen. Sie versuchen, Geringverdiener gegen Bürgergeld-Bezieher auszuspielen. Das Lohnabstandsgebot wird nicht verletzt. Ein alleinstehender Mindestlohn-Bezieher hat etwa 1500 Euro netto im Monat. Das ist wenig, aber es ist deutlich mehr, als ein Bürgergeld-Bezieher bekommt. Außerdem ist es immer besser, einen Job zu haben und in die Rentenversicherung einzuzahlen. Davon abgesehen, ist der Mindestlohn mit 12,41 natürlich viel zu niedrig. Wir haben berechnet, dass ein Mindestlohn von 15,02 Euro notwendig wäre, damit auch Geringverdiener von ihrer Arbeit leben können.
Könnten bei einem Mindestlohn von 15 Euro viele Jobs ganz verloren gehen?
Ich war bei der Einführung des Mindestlohns 2015 dabei. Das war ein historischer Moment. Schon damals gab es Befürchtungen, dadurch könnten Jobs verloren gehen. Das Gegenteil ist passiert: Es war ein kleiner Konjunkturmotor. Ich kritisiere die Entscheidung der Mindestlohn-Kommission, den Mindestlohn ab kommenden Jahr bei nur 12,41 festzulegen. Um die Inflation auszugleichen und die Kaufkraft zu erhalten, muss der Mindestlohn 15,02 Euro betragen.
Können sich Normalverdiener dann noch einen Friseurbesuch leisten?
Ein Friseurbesuch wird dann teurer, ja. Aber ich glaube nicht, dass deshalb die Friseursalons alle dicht machen müssen. Wir können doch auch nicht zulassen, dass Menschen im Winter nicht mehr heizen, weil sie Angst haben, nachher die Rechnung nicht mehr bezahlen zu können. Und das in so einem reichen Land wie Deutschland. Und wenn die Haushaltslage schwierig wird, will man als erstes im Sozialbereich kürzen. Das empört mich. Dann dürfen wir uns doch nicht wundern, wenn die Leute sich extremen Parteien zuwenden. Ich kenne eine Mutter mit vier Kindern, die am Ende des Monats nur noch Kartoffeln mit Quark essen, weil es das Günstigste ist. Man muss diesen Menschen doch das Gefühl geben, dass man sich um sie kümmert und nicht als Erstes den Rotstift bei ihnen ansetzt, wenn es im Haushalt mal eng wird.
Die Sozialausgaben machen aber heute rund ein Viertel des Bundeshaushalts aus ...
Wir sind ja auch ein Sozialstaat! Warum führt man nicht endlich wieder eine Vermögensteuer ein? Die reichsten 10 Prozent in Deutschland besitzen rund zwei Drittel des gesamten Privatvermögens in diesem Land. Wenn man Menschen mit einem Vermögen über einer Million Euro mit nur 1 Prozent besteuern würde, würde das 20 Milliarden Euro in die Haushaltskassen spülen. Warum haben wir keine grundsätzliche Übergewinnsteuer für Unternehmen eingeführt, die in der Energiekrise sehr gut verdient haben? Gerade in Krisenzeiten müssen starke Schultern mehr tragen als schwache.
Millionen erwerbsfähige Menschen sind im Bürgergeld-Bezug. Gleichzeitig fehlen überall Arbeitskräfte. Wie passt das zusammen?
Es wird jetzt gerne behauptet, die Menschen wollten nicht arbeiten. Das ist unanständig! Nur drei Prozent der Bürgergeld-Empfänger sind von Sanktionen betroffen, die anderen 97 Prozent bemühen sich. 800000 Bürgergeld-Empfänger stocken auf, weil ihr Arbeitslohn zum Leben nicht ausreicht. Hinzu kommen viele Rentner und Menschen mit einer Erwerbsminderung. Das heißt, sie können aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten.
Im Haushalt 2024 müssen 17 Milliarden Euro eingespart werden. Wo soll gespart werden?
Am Sozialstaat darf nicht gespart werden. Es wäre jetzt die Gelegenheit, klimaschädliche Subventionen zu streichen. Hierzu gehört beispielsweise die Diesel-Subvention oder auch die Subvention von Dienstwagen, die nicht mehr in die Zeit passen. Auch von der Pendlerpauschale profitieren vor allem Gutverdienende – ihre Steuerlast sinkt erheblich. Menschen mit niedrigen Einkommen hingegen zahlen seltener Einkommensteuern, ihnen nützt die Pendlerpauschale also nichts. Die Pendlerpauschale verschärft also soziale Ungleichheiten. Daher setzen wir uns dafür ein, dass sie in ein Mobilitätsgeld umgewandelt wird. Konkret heißt das: pro Pendel-Kilometer wird ein bestimmter Betrag direkt mit der Steuer verrechnet bzw. ausgezahlt – unabhängig vom Einkommen und den benutzen Verkehrsmitteln.
Deutschland befindet sich in der Rezession. Haben Sie Befürchtungen, dass es sich seine Sozialstandards möglicherweise bald nicht mehr leisten können wird?
Nicht wenn wir gegensteuern. In Zeiten von Krisen und Sorgen braucht es mehr Sozialstaat, nicht weniger. Außerdem haben wir einen Fachkräftemangel. Es wird weiterhin genügend Arbeitsplätze geben.
Weihnachten steht kurz bevor. Wie blickt der ärmere Teil der Bevölkerung in die Zukunft?
Es wird für viele Menschen in Deutschland ein mageres Weihnachtsfest werden. Einkaufen, heizen – all das ist für viele zu einer echten finanziellen Herausforderung geworden. Das ist traurig.
Interview: Rena Lehmann