Bundesnetzagentur-Chef Müller sagt: Je konsequenter Deutschland auf Elektrifizierung setzt, desto erschwinglicher wird es für alle.
Chef der Bundesnetzagentur„Die Stromerzeugung wird günstiger werden“
Ob es Deutschland schafft, schnell genug grünen Strom zu erzeugen und zu verteilen, wird über das Schicksal der Industrienation entscheiden. Bei dieser gigantischen Zukunftswette ist Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur in Bonn, einer der wichtigsten Leute für Wirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne). Tobias Schmidt sprach mit ihm.
Herr Müller, Schluss mit Atomkraft, raus aus der Kohle, alles auf erneuerbare Energie: Wird Deutschland durch die weltweit beispiellose Energiewende am Ende zur Industrieruine?
Nein.
Der für die Energiewende notwendige Aufbau der neuen Infrastruktur kostet laut Energiewirtschaft 1,2 Billionen Euro – allein in den kommenden fünf Jahren!
Wir gehen von einem Investitionsvolumen im Übertragungsnetz von 320 Milliarden Euro bis 2045 aus. Hinzu kommen Investitionen in die Verteilnetze von knapp über 200 Milliarden bis 2045. Natürlich ist auch das eine gewaltige Summe. Diese Kosten fließen aber nur anteilig verteilt über viele Jahrzehnte in die Netzentgelte ein. Und es sind Investitionen in unsere Zukunft. Alle Länder in der EU, die bei der Dekarbonisierung auf erneuerbare Energien setzen, müssen ihre Netze ausbauen. Deutschland ist weit voran. Ja, wir müssen deswegen Pionierkosten schultern. Aber wir setzen damit Standards und erschließen neue Märkte.
Sorry, aber bei den notwendigen Investitionen müssen die Stromkosten doch durch die Decke gehen, auch wenn die Erzeugung von Strom aus Wind und Sonne billiger ist als aus fossilen Quellen und AKW, oder etwa nicht?
Vier Faktoren bestimmen den Kilowattstundenpreis der Zukunft: Die Stromerzeugung ist seit dem Abschalten des letzten AKW günstiger geworden und wird noch günstiger werden, denn Wind- und Sonnenkraft drücken die Preise. Zweitens fehlt es an Netzen, was derzeit im Jahr drei Milliarden Euro an sogenannten Redispatch-Kosten verursacht. Diese sinken, wenn die Netze gebaut werden. Die beiden Faktoren verbilligen den Strom. Was ihn auf der anderen Seite teurer macht, sind die Netz- und Systemkosten, um das Netz auch bei wenig Wind und Sonne stabil zu halten.
Und?
Die Rechnung ist folgende: Über dem Bruchstrich stehen die Ausgaben. Unterm Bruchstrich steht die Menge des verbrauchten Stroms. Wenn es uns gelingt, immer mehr mit Strom zu heizen und Auto zu fahren – und alle an den Kosten beteiligen –, sinken für alle die Kilowattstundenpreise. Soll heißen: Je konsequenter Deutschland auf Elektrifizierung setzt, desto günstiger wird es für alle.
Geht die Rechnung tatsächlich auf, auch wenn die Netzkosten viel teurer werden als erwartet?
Es stimmt: Die Netzkosten sind ganz klar unterschätzt worden. Und ich bin immer dafür, Fehler einzuräumen, um daraus zu lernen. Es gibt aber auch einen positiven Irrtum: Die Stromerzeugung durch Wind- und Solarkraft geht schneller und wird günstiger als prognostiziert. Niemand hätte mit dem Ausbautempo und den inzwischen erzeugten solaren Strommengen gerechnet, was ja schon zu Negativpreisen für Strom führt.
Dem Staat fehlt das Geld, um die Rechnung zu bezahlen. Also müssen es die Industrie und die Haushalte schultern.
Es gilt die Regel: Wer die Netze nutzt, muss auch für die Netze zahlen. Also Haushalte, Gewerbe und Industrie. Um die Kosten zu senken, müssen wir den Ausbau effizienter und schneller hinbekommen. Zum Beispiel durch die Beschleunigung der Verfahren und die Bündelung von Trassen. Daran wird mit Hochdruck gearbeitet, das spart schon jetzt viel Geld. Und wir müssen uns auf ein flexibleres und digitales Stromnetz einlassen. Dass all das länger gedauert hat, wird zurecht kritisiert. Aber das Tempo zieht endlich an.
Robert Habeck will die Kosten mit einem Armortisationskonto strecken und den kommenden Generationen aufhalsen. Muss das sein?
Ob ein Armortisationskonto das richtige Instrument zur Finanzierung der Stromnetze ist, muss die Politik entscheiden. Ich rate dazu, alle Optionen zu nutzen, die Kosten zu drücken.
Auch durch Freileitungen statt Erdkabel für noch nicht durchgeplante Stromautobahnen?
Wir haben berechnet, was sich durch Freileitungen sparen ließe, und sind auf eine Summe von 16,5 Milliarden Euro gekommen. Gleichzeitig haben wir nach der geltenden Gesetzeslage mit Erdkabeln weiter geplant. Und wir sind in den letzten anderthalb Jahren sehr gut vorangekommen. Sollte die Politik jetzt doch noch einen Kurswechsel vollziehen, würde das zu einer signifikanten Verzögerung und folglich zu erheblichen Mehrkosten führen. Wir sollten jetzt Kurs halten.
Welche anderen Optionen sehen Sie?
Mit einer zeitlichen Staffelung der neuen Netzausbauprojekte können wir kostspielige Spitzen bei den erforderlichen Ressourcen von Mensch und Material vermeiden. Das vermeidet Kosten, die entstehen, wenn man alles gleichzeitig machen will. Bis 2037, dem Zieljahr der aktuellen Ausbauplanungen, ist ausreichend Zeit für eine solche Staffelung, ohne eine Inbetriebnahme spätestens 2037 aus den Augen zu verlieren.
Was wird aus dem Versprechen, Stromkosten für Bürger und Unternehmen in Regionen mit besonders vielen Windrädern und Solarparks zu senken?
Das Versprechen wird schon bald eingelöst! Wir haben unsere Pläne für die Strompreisreform, die die Netzentgeltkosten gerechter verteilt, gestern abgeschlossen. Bis Mitte Oktober werden die neuen Netzpreise ermittelt. Zum Jahreswechsel greift die Entlastung.
Was haben Haushalte in den Nordländern davon?
Nach einer Berechnung mit den Zahlen vom letzten Jahr würden die betroffenen Regionen um insgesamt rund 1,6 Milliarden Euro an Netzentgeltkosten entlastet. Ein Haushalt aus einer Region mit viel erneuerbarer Stromerzeugung kann sich nach diesen Zahlen auf Einsparungen von bis zu 170 Euro pro Jahr freuen. Aktuelle Zahlen haben wir im Oktober. In Ländern, die hinterherhinken, wird der Strom etwas teurer. Investiert eine Region danach zum Beispiel stark in Windkraft, profitiert sie auch von einer Entlastung.