Assange wartet in London auf den wartet auf den P-Day: Die Auslieferung des Wikileaks-Gründers an die USA könnte unmittelbar bevorstehen.
Auslieferung steht bevorFür Julian Assange rückt der Tag der Wahrheit näher
Julian Assange wirkt wütend und verzweifelt, als er im Juni 2019 vor den Augen der Weltöffentlichkeit aus der ecuadorianischen Botschaft in London gezerrt wird. Er sieht verwahrlost aus und trägt einen langen Bart, als Männer ihn in Handschellen aus dem Gebäude tragen. Assange sei „kein Held“, sagt Jeremy Hunt, Großbritanniens damaliger Außenminister. „Unsinn“, entgegnet Jeremy Corbyn, zu der Zeit Vorsitzender der oppositionellen Labour-Partei. Der Gründer der Plattform Wikileaks habe „uns die Wahrheit darüber gesagt, was tatsächlich in Afghanistan und im Irak passiert ist“.
Seither sitzt Assange in einer drei mal zwei Meter großen Zelle im Belmarsh-Gefängnis in London und wartet auf den P-Day. So bezeichnet der inzwischen 52-Jährige den Stichtag seiner möglichen Auslieferung an die USA. Die Abkürzung steht für „plane“, Flugzeug.
Nachdem Assange alle juristischen Instanzen in Großbritannien durchlaufen hat, könnte seine Auslieferung an die USA unmittelbar bevorstehen. Sollte ihm am Montag das Recht auf ein weiteres Berufungsverfahren verweigert werden, bliebe ihm nur noch der Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, wo sein Team sofort eine einstweilige Verfügung beantragen will. Die andere Möglichkeit wäre eine politische Lösung durch das Einlenken der USA.
Fall Assange ist kompliziert
Washington beschuldigt Assange unter anderem der Gefährdung von Menschenleben durch die Veröffentlichung geheimer Militärdokumente in den Jahren 2010 und 2011. Rechtfertigt dieser Vorwurf seine Auslieferung, hatte er so doch mutmaßliche Kriegsverbrechen aufgedeckt? Unter den Daten, die der Australier über Wikileaks ins Internet gestellt hatte, befand sich auch ein Video mit dem Titel „Collateral Murder“. Es zeigt, wie US-Soldaten in Bagdad aus einem Kampfhubschrauber heraus Zivilisten töten.
Der Fall Assange ist kompliziert. Der Veröffentlichung folgte ein Ermittlungsverfahren der schwedischen Behörden wegen Sexualdelikten. Aus Angst, über Schweden an die USA ausgeliefert zu werden, flüchtete Assange 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London. 2019 entzog ihm Ecuador das Asyl, Assange wurde verhaftet.
Ehefrau Stella geht davon aus, dass es am Montag zu einer Entscheidung kommt, und sprach vor Journalisten in London noch ein weiteres, aber eher unwahrscheinliches Szenario an: Die Richter könnten ihn auch freilassen, falls sie sich gegen eine Auslieferung aussprechen. Ihr Mann stehe nun „unter großem Druck“, plane aber im Gericht zu sein, sagte sie unserer Redaktion.
Fall Assange: In den USA drohen bis zu 175 Jahren Haft
Im Falle einer Verurteilung drohen Assange in den USA bis zu 175 Jahre Haft – unter wesentlich härteren Bedingungen als in Großbritannien. „Es war auch von 30 oder 40 Jahren die Rede“, sagte die UN-Sonderberichterstatterin über Folter, Alice Jill Edwards, unserer Redaktion. „Für mich ist das eine unverhältnismäßige Strafe für die Verbrechen, die ihm vorgeworfen werden.“
Laut Beate Streicher von Amnesty International war seine Tätigkeit von der Presse- und Meinungsfreiheit gedeckt. Die Forderungen nach einer Freilassung Assanges sind in den vergangenen Wochen international lauter geworden. „Immer mehr Spitzenpolitiker sprechen sich für ihn aus“, sagt Kristinn Hrafnsson, Chefredakteur von Wikileaks.
Das australische Repräsentantenhaus beschloss im Februar einen Antrag, der die USA und Großbritannien auffordert, alle Verfahren ge-gen Assange einzustellen und ihm die Rückkehr in seine Heimat zu ermöglichen. Kanzler Olaf Scholz hat sich ebenfalls gegen eine Auslieferung ausgesprochen.
Die australische Juristin Alice Jill Edwards will vor allem die US-Regierung zum Umdenken bewegen: Assange habe fünf Jahre in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis verbracht und damit „seine Zeit abgesessen“, sagt sie. Die USA wollen nach den Worten von Präsident Joe Biden den australischen Antrag auf Einstellung der Strafverfolgung zumindest prüfen. „Wir denken darüber nach“, sagte Biden im April.