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Gazastreifen in TrümmernWas passiert am „Tag danach“ im Nahen Osten?

Lesezeit 4 Minuten
02.10.2024, Palästinensische Gebiete, Deir el-Balah: Palästinenser trauern um Angehörige, die bei der israelischen Bombardierung des Gazastreifens getötet wurden, in einer Leichenhalle eines Krankenhauses in Deir al-Balah.

Das Leiden der Zivilbevölkerung geht weiter: Frauen in Deir al-Balah trauern um Angehörige, die bei israelischen Bombardements des Gazastreifens getötet wurden. 

Nicht nur die Palästinenser denken über Szenarien für die Zeit nach dem Krieg nach. Doch Experten halten Pläne für eine neue politische Ordnung und den Wiederaufbau vorerst für unrealistisch.

Mehr als 40000 Tote, hunderttausende Vertriebene, mehr als 150000 zerstörte Gebäude: Ein Jahr nach Kriegsausbruch liegt Gaza in Trümmern. Die Kämpfe zwischen Israel und der Hamas gehen weiter, doch einige Politiker denken über die Zeit nach dem Ende des Konflikts nach. Die Aussichten für eine stabile Nachkriegsordnung in Gaza, mit der Israel und die Palästinenser zufrieden sein könnten, sind allerdings düster.

Viele Vorschläge, aber keine Lösung

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas skizzierte vor der UN-Vollversammlung in New York unlängst einen Zwölf-Punkte-Plan für den „Tag danach“ in Gaza. Dazu gehörten ein vollständiger Abzug Israels, eine palästinensische Verwaltung für die mehr als zwei Millionen Bewohner des Gaza-Streifens und eine UN-Friedenskonferenz. Andere Vorschläge, die in den vergangenen Monaten präsentiert wurden, sehen die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe und ein milliardenschweres Wiederaufbau-Programm für Gaza vor, an dem sich arabische und europäische Länder beteiligen könnten.

Realistisch sei keines dieser Lösungsszenarien, sagt Nathan Brown, Nahost-Experte an der George-Washington-Universität in der amerikanischen Hauptstadt. Er bezweifelt, dass es einen klaren „Tag danach“ geben wird. Diese Vorstellung stütze sich auf Wunschdenken und widerspreche den Aussagen der Kriegsparteien über ihre jeweiligen Ziele in dem Konflikt, sagte Brown unserer Redaktion.

Netanjahu lehnt Palästinenser-Staat ab

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will die Hamas, die den Krieg am 7. Oktober vorigen Jahres mit ihrem Angriff auf Israel begann, vollständig vernichten. Mindestens bis dahin sollen die israelischen Truppen in Gaza bleiben. Hamas-Chef Jahia Sinwar will das Gegenteil, nämlich das Überleben der Hamas und den Abzug der Israelis. Auch politisch ist der Graben tief. Die politischen Vertreter der Palästinenser und ein Großteil der internationalen Gemeinschaft fordern die Gründung eines unabhängigen Palästinenser-Staates neben Israel, doch Netanjahu lehnt das ab.

Weil sich diese Positionen gegenseitig ausschließen, sind bisher alle Versuche gescheitert, eine Waffenruhe für Gaza auszuhandeln. An die Errichtung einer stabilen Nachkriegsordnung sei erst recht nicht zu denken, sagt Brown. Dafür müssten Israel, Hamas, wichtige arabische Staaten, internationale Organisationen, die USA und Europa unter einen Hut gebracht werden – das sei „extrem unwahrscheinlich“. Zudem wolle Israel den Gazastreifen nach einem Ende des Krieges weiter selbst kontrollieren.

Plan für Übergangsregierung ohne Hamas

Die Frage der Sicherheit ist zentral bei der Suche nach einer Nachkriegsordnung. Israel will verhindern, dass die Hamas eines Tages in Gaza wieder regieren und militärisch erstarken kann. Zwar ist die Organisation nach Angaben des israelischen Hamas-Experten und früheren Geisel-Unterhändlers Gershon Baskin einverstanden, dass Gaza nach dem Krieg übergangsweise von einer Technokraten-Regierung ohne Verbindung zur Hamas regiert wird. Palästinenser-Präsident Abbas, dessen Fatah-Bewegung eine Rivalin der Hamas ist, würde nach internen Beratungen einen Regierungschef für Gaza ernennen, sagte Baskin unserer Redaktion. In spätestens drei Jahren sollten dann freie Wahlen folgen. Doch nach diesem Plan könnte es in drei Jahren folglich wieder eine Hamas-Regierung geben. Die Terrorgruppe könnte sich dann mit neuen Waffen versorgen. Deshalb dürfte Israel einem solchen Plan nicht zustimmen.

Friedenstruppe als realistische Option?

Auch die Stationierung einer arabischen Friedenstruppe in Gaza wäre kein Allheilmittel. Arabische Staaten zögerten damit, sich an etwaigen Zukunftslösungen zu beteiligen, sagte Julien Barnes-Dacey von der europäischen Denkfabrik ECFR unserer Redaktion. Selbst wenn arabische Länder ihre Soldaten schicken sollten, wäre das keine Garantie für Sicherheit und Stabilität. Eine internationale Einheit würde von Palästinensern und Arabern womöglich als Hilfstruppe Israels in Gaza gesehen, schrieb der palästinensische Politiker Nasser el-Kidwa im arabischen Magazin „Al-Majalla“, das in London erscheint. Kidwa, ein Neffe des früheren PLO-Chefs Jassir Arafat, bewertet die Erfolgschancen einer Friedenstruppe als „bestenfalls zweifelhaft“. Die Entsendung einer internationalen Truppe käme ohnehin nicht so bald infrage, denn Netanjahus Regierung lehnt bis auf weiteres einen israelischen Truppenabzug aus Gaza ab.

Höchstens „notdürftige Absprachen“

Ohne umfassenden Konsens für den „Tag danach“ dürfte der Krieg in Gaza also vorerst weitergehen. Nahost-Experte Brown von der George-Washington-Universität schließt zwar nicht aus, dass es hin und wieder „notdürftig zusammengestoppelte Absprachen“ geben könnte, um die Gewalt einzudämmen. „Eine tragfähige Regierungsstruktur in Gaza“ sei aber nicht in Sicht. Am ersten Jahrestag des Kriegsausbruchs sei kein Hoffnungsschimmer in Sicht, sagt auch Barnes-Dacey von der Denkfabrik ECFR: „Für die Palästinenser in Gaza sieht es sehr finster aus.“