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Krieg und KrisenDieses Mal wird die Europawahl wirklich eine Schicksalswahl

Lesezeit 5 Minuten
Kleine Europafahnen im Europäischen Informations-Zentrum (EIZ) in der Thüringer Landeshauptstadt.

Symbolbild

Die kommenden EU-Wahlen sind von besonderer Bedeutung, da Themen wie Klimawandel, Pandemien und nationale Sicherheit die zukünftige Richtung und Rolle der EU beeinflussen könnten.

Wieder einmal ist vielerorts die Rede von einer Schicksalswahl für Europa. Und mancher Bürger mag sich müde fragen: Die wievielte Richtungswahl soll die Abstimmung über das EU-Parlament am Sonntag sein? Trotzdem trifft die abgedroschene Beschreibung dieses Mal tatsächlich zu. In Zeiten von Krieg und Krisen ist die Europäische Union wichtiger denn je.

So sind in den vergangenen Jahren immer mehr Kompetenzen nach Brüssel gewandert, selbst bei Themen wie Gesundheit oder Sicherheit, über die die Nationalstaaten sonst wie Adler gewacht hatten. Aber die Erkenntnis, dass sich Herausforderungen wie der Klimawandel oder eine Pandemie nicht im Alleingang bewältigen lassen, hat sich mittlerweile selbst in die Regierungsstuben der Hauptstädte herumgesprochen. Zu hoffen bleibt, dass sie auch häufiger danach handeln. Zu oft noch verfallen die Staatenlenker in alte Reflexe – und haben nur die nationalen Interessen im Blick.

Europawahl: Baustellen so groß wie nie

Dabei sind die Baustellen für die nächsten Jahre so groß wie nie. Im Kreis der Union sind sich zwar die meisten einig, dass die EU mehr für die eigene Sicherheit tun muss, aber in welcher Form? Und wer soll das bezahlen? Parallelstrukturen zur Nato aufzubauen, ergibt wenig Sinn. Mehr militärische Ausrüstung in Zusammenarbeit zu beschaffen, wäre dagegen richtig. Als Vorbild sollten die gemeinsamen Impfstoffeinkäufe während der Corona-Pandemie dienen.

Die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die als Spitzenkandidatin der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) dafür wirbt, weitere fünf Jahre als Brüsseler Behördenchefin im Amt zu bleiben, plädiert für einen eigenen EU-Verteidigungskommissar. Nur sollte die Union bei dieser Gelegenheit im Gegenzug die lange Liste ihrer derzeit 27 Kommissarsstellen ausmisten, die nach nationalem Proporz vergeben werden.

Wird sich die Union ans Strukturelle wagen? Das müsste sie, will sie bei der EU-Erweiterung vorankommen und damit geopolitisch Antworten auf Russlands Aggression liefern. Im jetzigen Zustand ist die EU nicht in der Lage, neue Länder wie etwa die Ukraine aufzunehmen. Es braucht Reformen, angefangen bei der Haushalts- und Agrarpolitik bis hin zum leidigen Prinzip der Einstimmigkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen.

Die Suche nach einer Antwort auf China und die USA geht weiter

Ebenfalls im Fokus der kommenden Legislaturperiode wird die Wettbewerbsfähigkeit Europas stehen. Die EU muss einen Weg finden, der Konkurrenz aus China und den USA etwas Schlagkräftiges entgegenzusetzen. Dafür müsste sie beweglicher werden – und obwohl die meisten Verordnungen zum Schutz des Klimas und der Umwelt, der Gesundheit und Sicherheit der Bürger notwendig sind, wäre die EU gut beraten, manchmal weniger kleinteilig das Leben und Arbeiten der Menschen regulieren zu wollen.

Dazu passt der „Green Deal“, das beispiellose europaweite Klimaschutzpaket, das unter anderem für einen drastischen Rückgang der Treibhausgasemissionen sorgen soll. In den kommenden Jahren wird es vor allem um die Umsetzung der Vorgaben gehen. Das allein ist eine Herkulesaufgabe für die Mitgliedstaaten, die Solidarität und Geschlossenheit erfordert. Dagegen bringt es nichts, die Uhr zurückdrehen zu wollen, wie einige Politiker das im Streit um das Verbrenner-Aus fordern.

In der Summe greifen die in den nächsten Jahren anstehenden Themen weit tiefer als in der Vergangenheit. Im Englischen sprechen sie in entscheidenden Zeiten von einem „make-or-break moment“ – dem Moment, der über Erfolg oder Scheitern entscheidet. Gelingt es der EU, das Projekt erfolgreich weiterzuentwickeln und die Union für die Zukunft zu wappnen oder bricht das wacklige Konstrukt auseinander?

Darauf haben allen voran die Wähler mit ihrem Kreuz Einfluss. Der alte Kalauer „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“ dient bis heute als Aufreger am Stammtisch, aber die Wahrheit könnte nicht weiter entfernt liegen. Das EU-Parlament ist längst kein Luxusparkplatz für aussortierte Politiker mehr, sondern sorgt bestenfalls mit dafür, dass die von der Kommission vorgelegten Gesetze verbessert und mitunter an die Realität angepasst werden.

Der Brexit hat nicht bewirkt, dass die EU Selbstkritik übt und Lehren zieht

Alle Umfragen prophezeien, dass der Union mit dieser Wahl ein massiver Rechtsruck bevorsteht. Und daran hat in Teilen leider auch „Brüssel“ schuld. Als vor acht Jahren eine Mehrheit der britischen Wähler für den Austritt des Königreichs stimmte und damit Schockwellen über den Ärmelkanal sandte, hätte die EU aufwachen müssen. Nur lenkte das politische Theater in London allzu häufig von den Gründen ab, warum viele Briten die Scheidung von der Gemeinschaft bevorzugten. Die Motive mögen von falschen Versprechen und Emotionen beeinflusst worden sein, aber die EU hatte dem nicht genug entgegenzusetzen.

Nach dem historischen Einschnitt wäre es an der Zeit gewesen, Selbstkritik zu üben und vor allem Lehren aus dem Desaster zu ziehen. Haben sich die EU-Spitzen in der Folge des Referendums tatsächlich um mehr Unterstützung durch ihre Bürger bemüht und den Wert des Projekts im Alltag sichtbarer gemacht? Nur bedingt. Die EU kam besser als erwartet durch die Krisen der letzten Jahre, ja. Und sie hat sich seit der Invasion Russlands in die Ukraine so einig wie selten präsentiert.

Trotzdem mangelte es an tiefgreifenden Reformen, an einem Abbau der Bürokratie, an Transparenz und Nahbarkeit. Etliche europaweit entscheidende Probleme wie die Frage der Migration blieben außerdem zu lange ungelöst. Sie wurden schon vor dem Brexit von EU-Skeptikern ausgeschlachtet und wirken jetzt wie Schmiermittel für den Antriebsmotor der Ultra-Rechten. Die Europäische Union wird sich in der nächsten Legislaturperiode grundlegend ändern müssen, um die rechte Welle auf lange Sicht abzuwehren – und ein Projekt in der politischen Mitte zu bleiben.