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Rundschau-Debatte des TagesHat das Europäische Parlament nichts zu sagen?

Lesezeit 5 Minuten
Die Flaggen der Europäischen Union, ihrer Mitgliedsstaaten sowie der Ukraine wehen vor dem Gebäude des Europäischen Parlaments.

Die Flaggen der Europäischen Union, ihrer Mitgliedsstaaten sowie der Ukraine wehen vor dem Gebäude des Europäischen Parlaments.

Die EU-Abgeordneten sind zwar vom Volk gewählt, dürfen aber nicht einmal eigene Gesetze auf den Weg bringen. Das trägt nicht gerade zur Akzeptanz der Institution bei.

Wie ein „Fürst der Finsternis“ sieht Klaus Welle beim besten Willen und selbst mit viel Fantasie nicht aus. Mit seinem akkurat gestutzten Schnurrbart und der höflichen Art wirkt er eher wie der Prototyp des Brüsseler Eurokraten. Dass die „Financial Times“ dem Deutschen vor zehn Jahren trotzdem den weniger nett gemeinten Spitznamen verpasste, lag vornehmlich an einer Erfindung: Welle gilt als der Vater des Spitzenkandidatenprinzips.

13 Jahre lang stand der heute 59-Jährige als Generalsekretär des Europäischen Parlaments rund 5500 Mitarbeitern vor und war in diesem Amt vor und hinter den Kulissen vor allem sehr einflussreich. Sein erklärtes Ziel in all den Jahren: die Autorität des Parlaments im Dauermachtkampf zwischen den politischen EU-Institutionen zu erweitern. Mit Erfolg. Die Befugnisse sind heute größer denn je, die 705 Abgeordneten aus den 27 Mitgliedstaaten haben mehr finanzielle Mittel denn je und das Parlament tritt selbstbewusster denn je gegenüber der EU-Kommission auf. Aber reicht das?

Zwiespältige Frage nach der Macht

Obwohl es das einzige Organ der Gemeinschaft darstellt, das direkt vom Volk legitimiert ist, spotten in Brüssel bis heute Beobachter über die „Plauderstunden“ im Hohen Haus Europas. Das EU-Parlament lediglich ein Abnickverein, der kaum etwas zu sagen hat? „Es ist viel selbstständiger als nationale Parlamente, weil es frei entscheidet, ob es zustimmt, ablehnt oder abändert“, sagt Welle. Auch der einzelne Abgeordnete habe mehr Möglichkeiten, auf Gesetzgebung Einfluss auszuüben. „Sie sind mächtiger als die Abgeordneten im deutschen Bundestag.“

Dennoch sprechen die EU-Länder in der Realität das letzte Wort, was sie erst kürzlich wieder demonstrierten. Während der finalen Verhandlungen über die Reform des Asylpakts konnten sich die Abgeordneten mit keinem ihrer zentralen Wünsche durchsetzen. Das Thema Migration, es war Chefsache. Anders sah es aus beim jahrelangen Streit um die Rechtsstaatssünder im Kreis der Gemeinschaft. Da verlangten die EU-Parlamentarier einen härteren Kurs – und setzten sich durch. Erst auf massiven Druck des Parlaments ergriff die Kommission Maßnahmen gegen Ungarn und fror Gelder ein.

Reichlich Luft nach oben

Vielleicht lässt es sich so zusammenfassen: Das Parlament kann an entscheidenden Stellschrauben drehen und Änderungen durchsetzen, die große Auswirkungen auf den Alltag der Europäer haben können. Außerdem müssen die Abgeordneten stets am Ende über alle Gesetze abstimmen. Ohne sie geht also nichts. Aber reichlich Luft nach oben gibt es dennoch, sind sich die Volksvertreter einig. So kritisieren sie etwa immer wieder lautstark, dass sie kein Initiativrecht besitzen, sie können also keine Gesetze auf den Weg bringen. Das bleibt die Aufgabe der Kommission als Exekutive der Union. Dabei wird die Spitze der Behörde gemäß des Vertrags von Lissabon vom Parlament gewählt, aber von den 27 Staatenlenkern nominiert. Die verbergen kaum, die Position unter sich aushandeln zu wollen. „Die Regierungschefs geben dieses Privileg, das sie meinen zu haben, nicht so leicht aus der Hand“, sagt Welle. Siehe Spitzenkandidatenprinzip. Siehe die vorige Wahl 2019.

Spitzenkandidaten nur geduldet

Das erst vor zehn Jahren eingeführte Verfahren sollte dafür sorgen, dass sich die Kandidaten mit ihren Plänen schon im Wahlkampf bei den Bürgern vorstellen. Durch die Personalisierung erhoffte sich die EU mehr Interesse und größere Aufmerksamkeit. Letztlich sollten die Wähler die Möglichkeit erhalten, auch die Führung der Brüsseler Behörde mitzubestimmen. Gleichwohl bleibt der Versuch der Demokratisierung umstritten. Denn nur einmal hat es funktioniert, einmal ist es krachend gescheitert.

Nachdem 2014 Jean-Claude Juncker als erfolgreicher Spitzenkandidat der christdemokratischen EVP-Fraktion im Anschluss an die Europawahl von den Staats- und Regierungschefs zum Kommissionspräsidenten berufen wurde, lief 2019 alles anders. Die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen wurde von den Staatenlenkern aus dem Hut gezaubert, weil vorneweg der französische Präsident Emmanuel Macron den Europawahlsieger Manfred Weber (CSU), der als Spitzenkandidat für die EVP angetreten war, im Top-Amt der Kommission verhindern wollte. Die Ambitionen des Niederbayern wurden durch eine schwammige Formulierung in den EU-Verträgen zerschlagen. Für das EU-Parlament war es eine schmerzliche Niederlage. Diesmal bewirbt sich von der Leyen als reguläre Spitzenkandidatin der EVP um eine zweite Amtszeit. Gegen sie tritt unter anderem für die europäischen Sozialdemokraten der Luxemburger EU-Kommissar Nicolas Schmit an.

„Nicht entmutigen lassen“

Hat das umstrittene Verfahren überhaupt noch eine Zukunft? „Der Europäische Rat hat das letzte Mal alles getan, um es kaputt zu machen“, sagt Klaus Welle. Er denkt trotzdem nicht, dass deshalb das Prinzip der Spitzenkandidaten wieder verschwinden wird. „Es kann nur frustriert werden.“ Deshalb hofft er auf Standhaftigkeit. „Wenn ein Parlament sich so schnell entmutigen lässt, dann kommt es in der Regel nicht weit.“


Auf einen Blick: Die Europawahl in Stichpunkten

Wann wird gewählt?

Die Europawahl findet alle fünf Jahre statt. Gewählt wird dieses Jahr über vier Tage vom 6. bis zum 9. Juni – in Deutschland wie in den meisten anderen EU-Ländern am Sonntag.

Wer wird gewählt?

Das Europaparlament hat seit dem EU-Austritt Großbritanniens 705 Abgeordnete. Nach den Wahlen soll es auf 720 Sitze wachsen. Gewählt wird über nationale Listen. Für jedes Land ist eine feste Zahl von Abgeordneten vorgegeben, die von der Bevölkerungsstärke abhängt. Deutschland hat mit 96 Sitzen die meisten Mandate, ist aber dennoch unterrepräsentiert. Während ein deutscher Abgeordneter grob 875.000 Menschen vertritt, sind es bei einem Abgeordneten aus Malta nur knapp 100.000.

Wie wird gewählt?

In Deutschland stellen die meisten Parteien bundesweite Listen auf, deren Reihenfolge auf einem Parteitag festgelegt wird. Je mehr Stimmen eine Partei bekommt, desto mehr Menschen von dieser Liste ziehen ein. Länderübergreifende Kandidatenlisten gibt es nicht.

Wer darf wählen?

In Deutschland liegt das Mindestalter für die Stimmabgabe erstmals bei 16 Jahren, ebenso in Belgien, Österreich und Malta. In den meisten anderen Ländern ist man ab 18 Jahren wahlberechtigt. Die Bürger wählen meist in ihrem Heimatland. Leben sie in einem anderen EU-Staat, können sie alternativ für dortige Kandidaten stimmen. In Deutschland gibt es 64,9 Millionen Wahlberechtigte. 4,1 Millionen davon sind Bürger aus anderen EU-Staaten.

Gibt es Sperrklauseln?

14 der 27 EU-Staaten haben Sperrklauseln zwischen 1,8 und fünf Prozent. In Deutschland gibt es anders als bei der Bundestagswahl für Parteien derzeit keine Mindesthürde, um Abgeordnete ins Parlament zu schicken. (afp/dpa)