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Betroffene berichtenKnibbeln, Quetschen, Kratzen – Skin Picking ist mehr als ein Tick

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Wenn das Haut-Piddeln zum Zwang wird, ist psychologische Hilfe gefragt. 

Köln – Kratzen, Quetschen und Piddeln bis sich Narben bilden: Wer seine Haut zwanghaft immer wieder bearbeiten muss, könnte unter Skin Picking leiden. Und das ist mehr als eine schlechte Angewohnheit, Skin Picking gilt als psychische Zwangsstörung. Drei Betroffene berichten von ihrem jahrelangen Leiden, eine Kölner Psychologin klärt auf.

Immer dann, wenn Maria M., 43, aus Köln, das Gefühl hat, nicht mehr aus ihrer Haut heraus zu können, treibt sie eine nicht zu bezwingende Macht dazu, einen Spiegel zu finden. Irgendwo. Am besten in einem einsamen Raum. Verschließbar. Dann steht sie, auch mal für eineinhalb Stunden, davor und tastet die Haut ab, meist an den Schultern. Akribisch, auf der Suche nach Unebenheiten. Hat Maria M. eine Abweichung aufgespürt, und ist sie noch so klein, wird sie penibel eliminiert. Kratzend. Knibbelnd. Quetschend.

Sport, Trägertops und Disko waren tabu

27 Jahre geht das so. Es gab Zeiten, Maria M. war Teenagerin, später Studierende, da war ihr Schulterbereich derart verkrustet und vernarbt, dass sie sich nicht traute, Sport zu machen. Trägertops waren tabu. Strandurlaube? Nicht daran zu denken. Und tanzen in der Disko völlig ausgeschlossen. „Ich erinnere mich an dieses Foto einer Schulfreundin beim Wandern. Es war warm, sie trug ein Trägertop und schaute unbekümmert in die Kamera. Ich war unendlich traurig und neidisch. Weil ich mir damals sicher war, dass diese Unbekümmertheit für mich nie möglich sein würde.“

Lange Jahre war Scham Marias täglicher Begleiter. Kleidung, die ihre Haut verhüllte und eine Hautarzt-Odyssee waren es auch. Einmal schreckte ein Mediziner beim Anblick ihrer Schultern zurück: „Was ist das denn? Eklig!“ Damals, vor 20 Jahren, konnte sich kaum ein Dermatologe, geschweige denn ihr Umfeld oder gar sie selbst einen Reim auf dieses zwanghafte Knibbeln machen. Es gab kein Wort für das, was Familie und Freunde schlicht als schlechte Angewohnheit abtaten.

Erste Selbsthilfegruppe in Köln gegründet

Erst seit „Skin Picking“ im Jahr 2013 als psychische Zwangsstörung in dem US-amerikanischen Diagnosemanual DSM-5 aufgenommen und als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben wurde, ist hier und da die Rede davon. Gibt es mehr Studien, Forscherteams, und Selbsthilfegruppen. Die Gruppe „Skin Picking Köln“, der auch Maria M. angehört, wurde 2010 gegründet und war lang vorher die erste ihrer Art im deutschsprachigen Raum. Trotz aller Bemühungen wird das Phänomen noch immer wenig Ernst genommen. Sehr zum Bedauern von Betroffenen – und Expertinnen wie Jennifer Schmidt.

Die Psychologin ist Professorin an der Kölner „HSD Hochschule Döpfer“. Und eine der wenigen mit Expertise in Sachen „zwanghaftes Bearbeiten der Haut“, wie sie Skin Picking einmal in einem Fachartikel beschrieben hat. Seit fünf Jahren beschäftigt sich Schmidt wissenschaftlich mit dem Thema, ist eine von etwa acht Forscherinnen und Forschern im deutschsprachigen Raum. „Erst seit drei Jahren beobachte ich mehr Studien zum Thema, es wird allmählich bekannter“, sagt Schmidt. Und erklärt, warum mehr Wissen dringend von Nöten wäre: „Wir gehen davon aus, dass mindestens eine Millionen Deutsche betroffen sind. Die meisten leiden darunter, dass ihr Leiden durch das Umfeld verkleinert, weil abgetan wird“.

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Mehr als nur ein Tick: Skin Picking ist eine anerkannte psychische Zwangsstörung.

Alexia K., Lehrerin an einer Sprachschule in Graz, musste 27 Jahre alt werden, bis sie im Oktober 2020 zum ersten Mal in ihrem Leben andere Betroffene kennenlernte. In einem Live-Chat der Kölner Selbsthilfegruppe. „Das war ein unglaublich schöner Moment, live zu erleben, dass man nicht alleine ist“.

Stress, Druck und Versagensängste

Seitdem Alexia K. 13 Jahre alt ist kratzt sie ihre Haut – vor allem im Gesicht – immer wieder auf. Bis Krusten entstehen. Und Narben. Anders als Maria M. geschieht das bei Alexia K. unbewusst. Nebenbei, beim Lernen, Lesen, Fernsehschauen. Vor allem dann, wenn der Stress groß ist, sie sich überfordert fühlt oder unter Versagensängsten leidet. „Während des Studiums hätte man an meinem Gesicht ablesen können, wann das Semester wieder gestartet ist“. Hätte können. Wäre da nicht das meisterhafte Make-Up, das sich Alexia schon als Schülerin angeeignet hat.

„Skin Picking ist eine sehr individuelle Problematik, es gibt viele verschiedene Typen, Ursachen und Anlässe“, sagt Schmidt. Bei den meisten Betroffenen beginne das zwanghafte Malträtieren der Haut in der Pubertät, einer Zeit, die für gewöhnlich einhergeht mit verstärkten Hautunreinheiten. Schmidt: „Wie viele Menschen mit Akne oder Neurodermitis gewöhnen sich Betroffene das Kratzen und Piddeln in dieser Zeit an und bearbeiten in der Folge teilweise auch unbelastete Hautstellen unkontrolliert.“

70 Prozent der Skin Picker sind Frauen

Zur Person und Selbsthilfe

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Jennifer Schmidt ist Psychologie-Professorin an der HSD Hochschule Döpfer Köln.

(Foto Schmidt)

Jennifer Schmidt ist Professorin für Angewandte Psychologie (Gesundheitspsychologie, Allgemeine und Biologische Psychologie) an der HSD Hochschule Döpfner in Köln, einer Privatuni mit Campus in Köln und Regensburg. Studienschwerpunkte sind medizinische und psychologische Fächer.

Die Selbsthilfegruppe Skin Picking Köln hat die Treffen während des Corona-Lockdowns als Videokonferenz ins Internet verlegt. Termin ist aktuell jeden Montag um 19 Uhr.

www.skin-picking.de

Starke psychische Belastungen, traumatische Erfahrungen und akute Stressphasen können ebenfalls ursächlich sein. Zudem gibt es, so Schmidt, erste Hinweise auf eine genetische Veranlagung und darauf, dass Persönlichkeitseigenschaften, wie eine ausgeprägte Impulsivität und extremer Perfektionismus Skin Picking begünstigen können. Betroffen sind mit geschätzten 70 Prozent vor allem Frauen und Mädchen.

Wenn Alexia K. mit dem Bus zur Schule fuhr, scannte sie die Gesichter ihrer Mitreisenden ab. Nach Kratzspuren. Und „Gleichgesinnten“. Doch die gab es nirgends. „Weil ich mich zur Schmink-Meisterin entwickelte, fielen niemandem meine Narben auf. Das Thema blieb tabu“, sagt Alexia K..

Bis sie, als sie im Studium wieder eine schlimme Phase hatte, drei Worte in die Google-Suche eingibt: „Immer wieder kratzen“. Und auf die Internetseite der Kölner Selbsthilfegruppe stößt. Sie verfolgt die Beiträge – mit Unterbrechungen – ein paar Jahre lang. Beginnt eine Therapie, die sie schnell wieder aufgibt. „Die Therapeutin hat sich offenbar mit Skin Picking nicht ausgekannt, hat es als nicht schädlich genug, um behandelt zu werden, abgetan“, sagt Alexia K..

Narben auf der Haut und in der Seele

Welche Narben das zwanghafte Wunden-Aufreißen auch in der Seele hinterlassen kann, muss Karin J., 34, aus Köln, seit Jahren schmerzlich erfahren. Seit Anfang April ist die zweifache Mutter wegen „des mich sehr belastenden Skin Pickings“, wegen Depressionen und Zwängen in klinischer Behandlung. Station Psychosomatik. 15 Jahre schon versucht Karin J. mit Hilfe von Skin Picking nach schwierigen Situationen „Neustarts“ in ihrem Leben. Zwanghaft.

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„Es geschieht immer nach einem Konflikt. Ich spüre Ohnmacht. Weil mir mein Gegenüber nicht zuhört und den Raum verlässt. Ich drehe die Situation zu meinem Nachteil, am Ende habe ich etwas Falsches gesagt. Objektiv weiß ich, dass es für meine Reaktion gute Gründe gab. Subjektiv sage ich mir: Du hast einen Fehler gemacht. Dann kommt der Gedanke: Jetzt ist eh alles egal. Ich gehe ins Bad, stelle mich vor den Spiegel. Und kratze.“

Diese Momente beschreibt Karin J. als Trance-ähnliche Zustände. Die Anspannung fällt von ihr ab, sie fühlt sich frei, von allem Ballast entgiftet. Für kurze Zeit. „Auf Dauer schleichen sich die Schuldgefühle ein. Ich bin enttäuscht von meiner Schwäche. Von mir geht etwas Schlechtes aus, ich habe meine Umwelt damit beschmutzt und Angst vor dem nächsten Tag, wenn alle meine Hautschäden sehen. Ich fühle mich hässlich und am Tiefpunkt angekommen.“ Karin J. braucht einen Neustart. „Um eine bessere Version meiner selbst zu werden.“ Dieses Mal, ganz sicher, den letzten. Bis zum nächsten. So geht das seit 15 Jahren.

Was tun? Verhaltenstherapie zeigt Erfolge

Nun hofft Karin J. auf therapeutische Unterstützung in der Klinik. Auch Alexia K. und Maria M. haben eine ambulante Therapie begonnen. Sie wollen lernen, ihr Leiden in den Griff zu bekommen. Alexia K., indem sie trainiert, sich das Kratzen bewusst zu machen, um zu verhindern, dass es nebenbei passiert. Maria M., indem sie die Auslöser aufspürt; sich, ihren Körper und dessen Bedürfnisse besser kennen- und akzeptieren lernt; Stressoren vermeidet.

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70 Prozent der Skin Picker sind Frauen.

„Zahlen zu Therapieerfolgen gibt es kaum, aber es zeigt sich, dass kognitive Verhaltenstherapien helfen“, sagt Schmidt. Mit dem Ziel eines symptomfreien Lebens. „Komplett löschen wird man Skin Picking nie, aber es gibt sehr gute Chancen, mithilfe der Therapie dahin zu kommen, beschwerdefreie Phasen über einen längeren Zeitraum zur erreichen.“ Bleibt die Frage, ab wann von Skin Picking die Rede und eine Therapie ratsam ist. Schmidt: „Jeder knibbelt mal an der Haut. Das ist in gewissem Maße ganz normal. Bedenklich wird es, wenn es zu körperlichen und seelischen Leiden führt, zu sozialer Beeinträchtigung oder gar Isolation, zur Vernachlässigung anderer Tätigkeiten, wie Arbeit oder Hobbys oder wenn alle Versuche, es zu unterlassen, immer wieder scheitern.“

Betroffene wünschen sich, Ernst genommen zu werden

Als Maria M. das Foto ihrer Schulfreundin betrachtete, hatte sie sich nicht vorstellen können, dass ihre schlimm verkrusteten Narben jemals verheilen würden. Das sind sie aber – „die Haut besitzt eine unglaubliche Kraft, sich selbst zu heilen, das hätte ich damals nicht zu hoffen gewagt“, sagt sie heute. Daher weiß sie es umso mehr zu schätzen, welche Freiheit es bedeutet, ein Trägertop zu tragen, sich die Sonne auf die Haut scheinen zu lassen – „und das Thema Scham zu überwinden.“ Scham, die es vielleicht nie hätte geben müssen, wenn mehr Menschen ihren vermeintlichen Tick als psychische Erkrankung erkannt und ernst genommen hätten.

Alltagstipps von Jennifer Schmidt

Natürlich rät die Psychologie-Professorin Jennifer Schmidt Betroffenen, die stark unter Skin Picking leiden, Therapeuten aufzusuchen. Folgende Kniffs können zusätzlich im Alltag helfen:

Alternative Beschäftigungen für die Finger finden, zum Beispiel „Fidget Spinner“ kreiseln, Luftpolsterfolie quetschen, einen Beruhigungsball kneten

Stimulus-Kontrolle: Manchmal hilft es, die Spiegel in der Wohnung abzukleben oder gar abzuhängen, damit man sich nicht ständig sieht, und damit den Impuls zum Skin Picking vermeidet. Betroffene, die die Fingerhaut bearbeiten, sollten zum Beispiel Baumwollhandschuhe tragen – vor allem nachts. Diejenigen, die sich Haut an Nägeln und Fingern abbeißen, kann ein spezieller, bitter schmeckender Nagellack helfen.

Konkurrierende Handbewegungen: Oft hilft es, sobald man den Impuls zum Kratzen, Beißen oder Knibbeln verspürt, die Hand auszustrecken und die Finger zu spreizen.

Alternativen zur Stressbewältigung finden, wie Achtsamkeitstraining, Atemübungen, Meditation, Musik oder Malen