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Ein Jahr nach der FlutWas macht der Verlust von Erinnerungsstücken mit uns?

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Zahlreiche Menschen haben in der Flutnacht persönliche Erinnerungsstücke verloren, die irgendwo zwischen den Trümmern liegen.

Köln – Ein Blick auf das farbenfrohe Foto in dem dicken Familienalbum und man erinnert sich sofort an den Tag zurück, an die Gespräche, die Musik, die Gefühle. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 haben zahlreiche Opfer der Flutkatastrophe nicht nur Angehörige und ihre Häuser verloren, sondern auch emotionale Erinnerungsstücke wie zum Beispiel analoge Fotos.

Dr. med. Ulrike Schmidt ist stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Sie hat mehr als 25 Flutopfer aus Erftstadt, Swisttal oder Bad Neuenahr-Ahrweiler trauer-therapeutisch betreut. Im Interview schildert sie, wie wir den Verlust von Erinnerungsstücken verarbeiten können.

Frau Schmidt, was sind für Sie persönliche Objekte?

Ulrike Schmidt: Erstmal Fotografien, die ja nicht in allen Zeitaltern digital waren und auch weiterhin nicht immer digital sind. In der Flut sind viele Hochzeitsbilder und Bilder der Eltern oder Großeltern verloren gegangen. Persönliche Stücke sind aber auch Erinnerungsstücke aus der Kindheit, sei es ein Kuscheltier oder ein bestimmtes Spielzeug, Tagebücher, Poesie-Alben, Schriftstücke, persönliche Widmungen, Briefe oder bei einigen Menschen auch Einladungskarten oder Tickets vom ersten Date bei einem Konzert mit dem Partner. Bei vielen Menschen sind es aber auch Möbel, die sie geerbt haben.

Wir Menschen haben mittlerweile tausende Gegenstände – wie kann ich da noch herausfiltern, was mir besonders wichtig ist?

Das hängt rein vom Gefühl ab. Das fühlt man sofort, wenn es weg ist oder wenn man sich vorstellt: Was würde mir am stärksten wehtun, wenn es weg wäre. Und da denkt jeder Menschen sofort an einen bestimmte Gegenstand. Da kommt ein ganz bestimmtes Gefühl in einem hoch und danach kann man auch ein individuelles Ranking machen. Und dieses Gefühl kann man, so wie die meisten Gefühle eben, auch nicht begründen.

Was ist wichtiger: Materielle Erinnerungsstücke oder Erinnerungen im Kopf?

Die Gedanken und Gefühle, die man hat, sind immer noch wichtiger. Diese sind, sofern man sich erinnern kann, detaillierter und wirken wie ein Film, ein inneres Abbild unserer Vergangenheit. Das ist das, was uns biografisch konstituiert und Erinnerungen machen auch einen Teil unserer Persönlichkeit aus. Und am Ende hat man die Erinnerungen eben noch, dieses Wissen kann für viele auch tröstlich sein.

Warum hängen wir trotzdem so sehr an diesen Gegenständen, wenn die Erinnerungen an sich ja noch da sind?

Es ist grundsätzlich so, dass wir Symbole brauchen. Deswegen gibt es ja auch Denkmäler, das ist ein ähnliches Prinzip. Und es ist auch so, dass wir in bestimmten Momenten diese Zeit besonders wertschätzen und gerne daran erinnert werden wollen. Denn reine Erinnerungen verblassen mit der Zeit.

Ein konkretes Beispiel ist die Großmutter, von der man weiß, wie sie aussieht. Wenn sie dann gestorben ist, hat man noch Bilder. Aber wenn man diese jahrelang nicht mehr sieht und dann alte Fotos wiederfindet, erinnert man sich noch an bestimmte Details und andere Erinnerungen kommen, wie man so sagt, wieder hoch. Die Erinnerungen verblassen zwar, aber die Gefühle dazu eben nicht und dann ist es schön, dass man diese Gefühle mit noch mehr Erinnerungen durch die materiellen Stücke unterfüttern kann.

Wir wissen alle, dass man nach dem Tod nicht mehr mit den Menschen reden oder sie sehen kann. Fotos oder Gegenstände wirken da wie eine Art Verbindung zu diesen Menschen. Wenn der Gegenstand dann weg ist, wirkt es gefühlsmäßig, als wäre ein Teil dieser Verbindung verloren gegangen.

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Dr. med. Ulrike Schmidt ist stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn.

Was ist schlimmer, verlorene oder kaputte Erinnerungsstücke?

In der Regel ist es schlimmer, wenn etwas weg ist, weil eben dieses Gefühl auch symbolhaft an dem Fotoalbum oder ähnlichem hängt. Bei kaputten Gegenständen ist das Symbol, an das sich die Erinnerungen festhalten können, ja noch da.

Gab es Dinge, von denen die Flutopfer nicht wussten, dass sie ihnen viel bedeuten?

Ja, da waren es primär Fotos. Die emotionale Bedeutung war manchen Menschen erst gar nicht bewusst. Man wusste halt immer, dass die Fotoalben irgendwo im Keller liegen. und man kann sich die Fotos jederzeit anschauen, wenn man es möchte. Und auf einmal wird einem klar: Im Keller liegt jetzt nur Schrott, die Fotos kann ich jetzt nie wieder sehen.

Welche Menschen leiden besonders unter dem Verlust der Erinnerungsstücke?

Gerade Opfer, die keinen anderen Menschen verloren oder die akute Phase schon überstanden haben, haben schon früh den Verlust der Erinnerungsstücke beklagt. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, aber beim Alter. Ältere Menschen sind logischerweise stärker betroffen. Dies liegt daran, dass sie ja viel mehr Erinnerungen haben. Bei diesen Menschen sind bestimmte Erinnerungen teilweise Jahrzehnte her. Bei den Jüngeren war es dann eher der Computer, der verloren oder kaputt ist, auf denen viele Erinnerungsstücke lagen.

Was raten Sie den Menschen, wie sie mit diesem Verlust umgehen können?

Ich arbeite ja psychotherapeutisch und ich arbeite mit Menschen, die auch Krankheitssymptome haben und ein Erinnerungsstück zu vermissen, ist kein Krankheitssymptom, sondern begleitend. Ich bespreche die Gefühle und die Bedeutung des Erinnerungsstücks und dann suchen wir nach Möglichkeiten, die Erinnerung anders aufrecht zu erhalten.

Mit ein paar Patienten zum Beispiel, nicht nur Flutopfer, schreibe oder male ich die Erinnerungen auf. Oder man kann versuchen von anderen Familienangehörigen Fotos zu bekommen. Man sollte die Erinnerung also auf irgendeiner Art und Weise neu für sich festhalten. Das nutze ich mit meinen Patienten, um dann auch die Gefühle, die mit der Katastrophe kamen, zu bewältigen.

Wie stark kann die Trauer vor allem bei nicht ersetzbaren Dingen werden?

Da geht es dann ja um die symbolhafte Bedeutung der Dinge, die kann schon stark werden, insbesondere dann, wenn noch andere Belastungsfaktoren da sind. Wäre im Leben alles andere in Ordnung, sind solche Verluste meistens nicht halb so belastend, als wenn man Opfer einer Flutkatastrophe ist und sowieso von Grauen und Schrecken umgeben war oder ist. Das führt zu einer viel höheren Stressbelastung. Und vor diesem Hintergrund wird die Trauer um diese Symbolstücke noch größer.

Was können Folgen dieser Trauer sein?

Vorab ist zu sagen: Gesunde Trauer, zum Beispiel der Verlust eines Menschen oder Liebeskummer, kennen wir alle. Es gibt aber auch die krankhafte Trauer und krankhaft wird es dann, wenn es nicht weg geht und die Trauer Monate, teilweise Jahre oder fast das gesamte Leben einnimmt. Diese wird nicht allein durch den Verlust eines Erinnerungsstücks ausgelöst, es kann aber ein Teil des Ganzen sein.

Was krankhaft ist und uns alle betreffen kann, wenn wir etwas Schlimmes erleben, sind die schrecklichen Momente der Katastrophe, die man immer wieder bildhaft vor Augen hat. Dann können sogenannte Flashbacks von der Flut, von den schlimmsten Momenten wieder hochkommen. Gedanken an verlorene Erinnerungsstücke können dieses Leid noch verstärken und der als schmerzhaft empfundene Verlust kann Flashbacks und andere Symptome einer Traumafolgestörung, wie beispielsweise einer Posttraumatischen Belastungsstörung, verstärken.

Menschen, die unter Flashbacks, niedergedrückter Stimmung, sich nicht abschwächender Trauer oder anderen psychiatrischen Symptomen leiden, sollten einen Psychiater oder eine Psychiaterin, einen Psychotherapeuten oder eine Psychotherapeutin aufsuchen. Es gibt wirksame Behandlungsmethoden, das Leid zu mindern.

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Wie macht es gefühlsmäßig einen Unterschied, ob ich etwas verloren habe, dass mit persönlich viel wert ist oder etwas, das wirklich teuer war?

Für Menschen ist es schlimmer etwas zu verlieren, das einen hohen emotionalen Wert hat als etwas, das viel gekostet hat und das man einfach nur besitzt. Es ist eben ein anderes Gefühl, als wenn die Jeans weg ist, die so gut gepasst hat oder die einzige Erinnerung an die Großeltern.

Bei der Flutkatastrophe ist es natürlich noch etwas anderes, da hängt der Verlust von Besitz vom Ausmaß ab. Da ist es für die Menschen erst einmal wichtiger, die finanzielle Sicherheit wieder herzustellen und zu schauen, wo man überhaupt wohnt. Besitz zu verlieren ist dann nicht schlimm, wenn es nicht lebensnotwendig ist. Akut sind die Erinnerungsstücke für Opfer der Flutkatastrophe zweitrangig.

Würden Sie sagen, dass der Verlust der Erinnerungsstücke dann langfristig gesehen schlimmer ist als der finanzielle Verlust, der akut ist?

Das hängt natürlich auch davon ab, in welchem Ausmaß der finanzielle Verlust lebenseinschränkend wirkt. Wenn aber die primären Bedürfnisse gesichert sind und man sich nicht täglich mit durch die Katastrophe hervorgerufenen finanziellen Sorgen plagen muss, dann ist es richtig, dann ist der Verlust von Erinnerungsstücken, aber auch der Verlust der Geborgenheit-stiftenden Wohnung, die ja auch ein Erinnerungsstück in dem Sinne ist, dass sie uns in allen Ecken an Begebenheiten unseres Lebens erinnert, schmerzhafter.