Mit unschuldiger Miene behauptet der Fünfjährige, er habe den Teller nicht zerbrochen, obwohl es offensichtlich ist. Die Achtjährige gibt bei Freunden mit einem Spielzeug an, das sie gar nicht besitzt. Und der 13-Jährige erfindet, ohne mit der Wimper zu zucken, Erlebnisse, die gar nicht stattgefunden haben. Immer wieder erzählen Kinder Lügen. Und Eltern sind in der Regel schnell alarmiert. Schließlich fühlt es sich gar nicht gut an, angelogen zu werden. Und dann ist da auch noch die Sache mit der Moral: Lügen gehört sich doch nicht – oder?
Ohne Frage haben Lügen kein gutes Image. Bei Licht betrachtet, sind wir aber ständig davon umgeben. „Wir alle lügen gelegentlich“, sagt Entwicklungspsychologin Dr. Mareike Klafka von der Universität Hamburg, „es ist also völlig normal, dass auch Kinder lügen.“ Schon Zweijährige probierten ab und zu Lügen aus und flunkerten etwa beim Zähneputzen. „Doch erst ab ungefähr vier Jahren sind Kinder in der Lage, bewusst zu lügen und komplexere Lügen zu erzählen.“ Kinder starteten mit dem Lügen häufig, um sich in der Umwelt zurechtzufinden und eigene Ziele zu erreichen. „Sie entdecken, dass es eine sehr effektive Strategie sein kann.“ Manche Kinder erzählten Lügen auch aus Spaß oder wollten Grenzen austesten. „Besonders gut lügen können Kinder am Anfang noch nicht. Wenn es aber funktioniert, ist das ein Erfolgserlebnis für sie.“
Zum Lügen braucht es wichtige Fähigkeiten
Eine echte Leistung ist das Lügen können auch in der Entwicklung eines Kindes. „Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein Kind lügt, denn das zeigt bestimmte kognitive und soziale Fähigkeiten“, erklärt Mareike Klafka. Man spreche hier von der „theory of mind“. „Das heißt, Kinder können sich in die Perspektive anderer Menschen hineinversetzen und verstehen, was diese wissen, sich wünschen oder für wahr oder falsch halten.“ Kinder seien so in der Lage, soziale Beziehungen zu regulieren.
Lügen zu können zeige außerdem die Fähigkeit eines Kindes, die Wahrheit zugunsten der Lüge zu unterdrücken. Diese Inhibitionsfähigkeit sei Teil unserer exekutiven Funktionen, also der mentalen Prozesse, die zielgerichtetes und effektives Handeln ermöglichen. „Wenn ein Kind lügt, sollte man sich also erst einmal freuen, weil es Meilensteine in seiner Entwicklung erreicht hat.“ Befunde zeigten sogar, dass ein hoher IQ eine frühe „theory of mind“ und somit indirekt auch frühes Lügen vorhersage. Andererseits gebe es auch die Annahme, dass intelligente Kinder besonders resistent seien in Situationen, in denen sie Regeln überschreiten und dann lügen müssten. „Für diese Kinder ist es schlichtweg weniger notwendig, zu lügen.“
Kinder lügen auch, um die Gefühle anderer zu schonen
Gerade im Alter von fünf oder sechs Jahren nutzten Kinder Lügen häufiger, um sich auszuprobieren. Mit fortgeschrittenem Alter nehme das Lügen aber eher wieder ab, weil Kinder mit der Zeit auch andere Strategien lernten, um Ziele zu erreichen oder soziale Beziehungen zu regeln. „Sie müssen das Lügen also weniger häufig nutzen.“ Ältere Kinder könnten jedoch viel komplexer lügen. „Sie wissen, dass man mit Lügen auch Aufmerksamkeit erregen, den Eindruck, den man bei anderen hinterlässt, steuern und Anerkennung für etwas bekommen kann, was einem gar nicht zusteht.“
Den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge verstehen Kinder tatsächlich schon früh. „Ungefähr ab drei Jahren entwickelt sich diese normbasierte Moral“, sagt Klafka, „Kindern fordern regelhaftes Verhalten von anderen ein und empfinden selbst Schuld oder Scham, wenn sie Regeln nicht einhalten.“ Gleichzeitig beobachteten sie bei Erwachsenen aber viele Notlügen im Alltag und auch das sogenannte „prosoziale Lügen“: das Flunkern, um die Gefühle anderer nicht zu verletzen. Oft müsse man sich in Situationen entscheiden, was moralisch wichtiger ist. „Bekommt man ein Geschenk, das einem nicht gefällt – ist es dann wichtiger, die Wahrheit zu sagen oder den anderen zu schonen und lieber zu lügen?“ Kinder mit Empathie-Fähigkeiten sagten öfter nicht die Wahrheit, um anderen nicht weh zu tun, bestätigt auch Erziehungsexpertin Dorothea Jung von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). „Wenn aus Mitgefühl gelogen wird, darf man auch mal ein Auge zudrücken.“
Kinder lügen, um sich aus schwierigen Situationen zu retten
Es gibt also auch bei Kindern ganz verschiedene Lügenmotive. Manchmal sollten Eltern aber genauer hinschauen. „Hinter bewusstem Lügen verbirgt sich meist etwas“, sagt Jung. Kinder aus prekären Lebenssituationen versuchten zum Beispiel, durch Lügengeschichten irgendwie sozial mithalten zu können. Manchmal wollten sich Kinder mit einer Lüge auch aus einer schwierigen Situation heraus retten. „Lügen kann ein Zeichen der Überforderung sein.“ Dann erzählten Kinder, etwas erledigt zu haben, was sie in Wahrheit nicht schafften. Auch introvertierte Kinder, die sich nicht nach draußen trauten, nutzten Lügen aus der Not heraus. „Manche Kinder lügen auch bewusst, weil sie Angst vor Konsequenzen, etwa vor der Reaktion und Bestrafung der Eltern haben.“ In dem Fall müssten Erwachsene genau hinschauen, ihr eigenes Handeln reflektieren und mit ihrem Kind sachlich und offen über die Situation sprechen.
„Eltern müssen nicht jede Fantasiegeschichte kleiner Kindern richtigstellen“, sagt Dorothea Jung. Bei älteren Kindern dürften sie aber schon sagen: „Das kann ich dir nicht glauben. Du kannst mir gerne erzählen, was wirklich passiert ist.“ Eltern sollten dem Kind so offen gegenübertreten, dass es sich auch traue, die Wahrheit zu sagen. Und sie dürften auch gerne zurückmelden, dass es ihre Gefühle verletze, wenn sie angelogen werden. Moralpredigen sollten sie beim Gespräch über Lügen aber grundsätzlich vermeiden. „Das Bestrafen von Lügen reduziert Lügen nicht“, sagt auch Mareike Klafka, „aus wissenschaftlicher Sicht ist es die bessere Strategie, Kindern ein korrektives Feedback zu geben: Was macht dieses Verhalten mit den anderen?“
Auf der anderen Seite dürfe ehrliches Verhalten bei Kindern ruhig zwischendurch auch mal gelobt werden, ergänzt Dorothea Jung. Und natürlich zähle auch hier das Vorbild: „Wenn Eltern grundlegend Ehrlichkeit vorleben, lernt das auch ein Kind leichter.“
ErziehungsberatungHilfe in Erziehungsfragen finden Eltern kostenfrei und anonym bei der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke).
Kinder müssen spüren, was Lügen anrichten können
Die gute Nachricht ist: „Nur etwa drei Prozent aller Kinder sind chronische Lügner, das ist relativ selten“, sagt Mareike Klafka. In solchen Fällen gehe es auch darum, mögliche Konsequenzen aufzuzeigen: Dass man jemandem, der immer lüge, irgendwann auch in ernsten Situationen nicht mehr glaube. „Bei schweren Lügen kann es auch hilfreich sein, die Kinder in die Verantwortung zu nehmen, ihre Unschuld zu beweisen.“
Richtig problematisch werde das Lügen erst dann, wenn Beziehungen dadurch nachhaltig beeinträchtigt würden und es zum Beispiel Kinder davon abhalte, mit Gleichaltrigen zu agieren und Freundschaften zu schließen, sagt Klafka. „Handeln sollte man natürlich auch, wenn Lügen im Zusammenhang mit Aggressivität oder Straffälligkeit auftreten.“ Wenn das Lügen überhandnehme, sollten Eltern sich Hilfe holen bei einer Beratungsstelle oder bei einem Kindertherapeuten, sagt Dorothea Jung.