SchwangerschaftIm Mutterleib lernen Babys viel mehr als wir denken
Köln – Neun Monate lang in einer dunklen Höhle leben – das hört sich ziemlich langweilig an. Und nicht so, als könnte man in dieser Zeit besonders viel lernen. Vermutlich aus diesem Grund waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch mindestens bis in die 90er Jahre der Ansicht, dass Kinder im Mutterleib nichts anderes tun würden als körperlich zu wachsen. Die psychologische, emotionale und geistige Entwicklung beginne erst, wenn die Kinder auf der Welt sind. So die Annahme. Doch: „Während seiner ersten neun Monate lernt ein Kind vermutlich weitaus mehr als im Verlauf seines gesamten späteren Lebens“, schreiben Gerald Hüther und Ingeborg Weser in ihrem Buch „Das Geheimnis der ersten neun Monate“. Was genau also tut ein Baby da im Mutterleib? Und wie lernt es in seiner dunklen Höhle?
Mit der vorgeburtlichen Entwicklung eines Kindes beschäftigt sich Ludwig Janus schon seit den 1970er Jahren. „Ich konnte vieles von dem, was meine Patientinnen und Patienten mir erzählt haben, nicht richtig einordnen“, sagt Janus, der lange als ärztlicher Psychotherapeut in Heidelberg tätig war. Der heute 82-Jährige erzählt zum Beispiel von einem Patienten, der bei Konflikten mit seiner Frau schlimme Atemnot bis hin zu Asthmaanfällen bekam.
Anfangszeit des Leben hat „formativen Charakter“
Letztlich stellte sich heraus, dass der Patient bei der Geburt stecken geblieben war, dieses Trauma bis ins Erwachsenenalter nicht verarbeitet hatte und die Konflikte mit seiner Frau diesen Notzustand triggerten. „Aber sich mit dieser Phase des Lebens zu beschäftigen, war in der Mainstream-Psychoanalyse lange nicht gewollt.“ Gemeinsam mit einer Handvoll anderer Wissenschaftler gründete Janus die „Internationale Gesellschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin“ und versuchte dieser besonderen Zeit des Lebens mehr Geltung zu verschaffen.
Mit mittelmäßigem Erfolg. Zwar gibt es heute vermehrt Forschung zu dieser sogenannten Pränatalpsychologie, Hirnforscher wie Gerald Hüther, Epidemiologen und andere beschäftigen sich mit dieser Phase. Doch in der Gesellschaft, ja nicht mal im Psychologie-Studium an den Universitäten, konnte das Fach wirklich Fuß fassen. Dabei, so betont Janus, habe diese Anfangszeit des Lebens einen „formativen Charakter“. „Wir bekommen nicht nur einen Körper, sondern auch dessen Funktionalität wird schon vor der Geburt initiiert.“
Sinnesorgane stimulieren die Entwicklung des Gehirns
Dabei spielt natürlich die Entwicklung des menschlichen Gehirns eine wichtige Rolle – wo schon vor der Geburt die Nervenzellen angelegt und auf vielfältige Weise miteinander verschaltet werden. Gerald Hüther beschreibt: „Das Erwachen der Sinnesorgane ist dabei einerseits vom Stand der Hirnentwicklung abhängig; auf der anderen Seite aber stimuliert der immerwährende und sich ständig verändernde Strom von Sinneseindrücken wiederum die Entwicklung des Gehirns.“ Kurz gesagt: Wenn das Baby im Mutterleib strampelt und gegen die Gebärmutterwand stößt, wenn es am Daumen nuckelt, mit der Nabelschnur spielt oder die Berührungen seiner Mutter durch die Bauchdecke spürt, sind das Impulse, die dem ungeborenen Kind dabei helfen, seinen Tastsinn weiterzuentwickeln.
Das könnte Sie auch interessieren:
Ähnliches gilt für den Hörsinn: Sowohl durch Geräusche innerhalb des Mutterleibs (Herzschlag oder Verdauungsgeräusche), als auch von außerhalb (Stimmen der Eltern oder Musik) wird die Entwicklung des Gehörs stimuliert – und es wird gelernt. Studien konnten zeigen, dass Babys, wenn sie im Mutterleib immer wieder die gleiche Geschichte vorgelesen bekommen, anfangs neugierig, nach ein paar Wiederholungen jedoch gelangweilt waren. Bekamen sie dann jedoch eine andere Geschichte zu hören, reagierten sie gespannt. Und eine englische Studie zeigte, dass Babys die Eingangsmelodie der Lieblingsserie ihrer Mutter nach der Geburt wiedererkannten – und mit Entspannung und Freude reagierten. Denn offensichtlich waren das die Gefühle, mit denen die Mütter auf die allabendliche Serie reagierten.
Das Ungeborene lernt durch seine Mutter alle Gefühle kennen
Und da wären wir bei einem weiteren wichtigen Punkt der vorgeburtlichen Entwicklung: „Schon vor der Geburt lernt das Kind die menschlichen Gefühle durch die Mutter“, sagt Psychotherapeut Ludwig Janus. Und zwar über die Nabelschnur, beschreibt Gerald Hüther: „Durch Hormone und andere Botenstoffe gelangen Informationen über die Befindlichkeiten des mütterlichen Organismus in den Fötus“ Das bedeute nun aber nicht, dass die werdende Mutter in ihrer Schwangerschaft 40 Wochen lang glücklich sein müsse, betont Janus. Ganz im Gegenteil, sei es von Vorteil, wenn das Baby die ganze Bandbreite an Gefühlen mitbekäme, sagt der Experte: „Man freut sich, man ist traurig, man ist munter, man ist zornig. So bekommt das Baby mit: Es gibt lustige Seiten des Lebens, aber auch traurige.“
Auch der viel beschworene Stress sei meist gar nicht so schlimm. „Ich kann ja nicht nur im Sessel sitzen und mir keinen Stress machen. Der Mensch braucht die Lebendigkeit, die Herausforderung.“ Problematisch werde es erst in sehr schlimmen Situationen: Etwa wenn die Mutter Hunger leidet. Wenn sie vergewaltigt oder in den Bauch getreten wird. Wenn sie Todesängste erleidet, weil sie in einem Kriegsgebiet lebt. „Aber wenn die Mutter unter halbwegs normalen Bedingungen schwanger ist, braucht sie sich um die Gefühlsentwicklung des Babys keine Sorgen zu machen“, beruhigt Janus.
Das Wichtigste: Das Kind muss willkommen sein
Für die gute psychologische Entwicklung des Kindes sei vor allem eines wichtig: Das Gefühl, gewollt und willkommen zu sein. „Für das Kind ist die Mutter die erste Welt. Und diese ersten Welterfahrungen tragen wir Menschen unser ganzes Leben lang in uns – auch wenn wir sie nicht verbalisieren können“, sagt Janus. „Ungewollte Kinder fühlen sich oft auch in ihrem Leben ungewollt und nicht dazugehörig.“ Selbst vorgeburtliche Traumen sind dann möglich, etwa, wenn eine Abtreibung nicht gelingt. In diesem Zusammenhang sieht Janus auch sehr intensive medizinische Untersuchungen, wie etwa den Trisomie-Test, kritisch: „Die Medizin ist einerseits segensreich, lenkt andererseits aber vom Inneren ab. Das Kind lebt ja in den Gefühlen der Mutter und wenn die Mutter überlegt, das Kind bei einer Behinderung abzutreiben, kann das die frühe Bindung brechen. Das Kind spürt dann auf einmal eine Leere und erleidet eine Art Schock.“ Deswegen plädiert er dafür, dass unsere Gesellschaft der Schwangerschaft nicht nur in medizinischer Hinsicht Aufmerksamkeit gibt, sondern auch in seelischer.
Denn für die Geburt sei eine gute Bindung zwischen Mutter und Kind wichtig. „Früher dachte man, dass das Kind herausgepresst wird, doch heute weiß man, dass Kind und Mutter die Geburt zusammen bewerkstelligen: Das Kind stößt sich an der Wehe ab und krabbelt nach vorne. Die Mutter antwortet mit Bewegungen darauf. Wenn Mutter und Kind schon vor der Geburt eine lebendige Beziehung zueinander haben, können diese Geburtskräfte erst richtig wirksam werden.“
Vorgeburtliche Entwicklung des Kindes bewusst gestalten
Hirnforscher Gerald Hüther fasst in seinem Buch zusammen: „Bis vor Kurzem haben wir auch noch geglaubt, dass die vorgeburtliche Entwicklung weitgehend durch genetische Programme gesteuert würde… Wir mussten begreifen, dass die in der befruchteten Eizelle verschmolzenen DNA-Sequenzen des väterlichen und mütterlichen Genoms lediglich ein Spektrum von Optionen bereitstellen, das festlegt, wie sich die weitere Entwicklung vollziehen könnte.“ Denn was aus diesen Erbanlagen wird, wie sie genutzt werden, hängt eben auch ganz elementar davon ab, wie es der Mutter während der Schwangerschaft geht – und was das Kind dadurch erlebt und lernt: Heißt die Mutter das Kind willkommen oder ist sie sehr ängstlich, nimmt sie Medikamente oder ernährt sich schlecht, ist sie körperlich oder seelisch krank. „Die Idee, dass ein menschliches Wesen von allein entstehen und sich weiterentwickeln kann, hat nicht nur unsere bisherigen Vorstellungen von der vorgeburtlichen, sondern auch von der späteren Entwicklung des Menschen ganz entscheidend geprägt.“ Hüther und Janus plädieren dafür, diese Erkenntnisse als Chance zu sehen und die vorgeburtliche Entwicklung eines Kindes bewusst zu gestalten. Denn die dunkle Höhle hat offenbar viel mehr zu bieten, als wir ahnen.