AboAbonnieren

Konflikte in der PubertätWas tun, wenn das eigene Kind einem plötzlich fremd ist?

Lesezeit 6 Minuten
Ein jugendliches Mädchen schaut genervt.

Wo gerade noch Nähe zwischen Eltern und Kind war, gibt es nun niederschmetternde Blicke, Schweigen und Streit.

Einsilbige Antworten, dauernde Machtkämpfe, ganz viel Ablehnung – das Leben mit einem Teenager fühlt sich für Eltern oft an, als würden zwei fremde Welten in einem Haus existieren. Plötzlich hat man das Gefühl, sein Kind gar nicht mehr zu kennen. Woher kommt die plötzliche Distanz und wie gehen Eltern am besten damit um? Kinder- und Jugendpsychiater Oliver Dierssen weiß, wie sich fremd gewordene Eltern und Kinder wieder besser begegnen können.

Gerade war das Kind noch klein und hat mit einem gekuschelt, jetzt scheint man es gar nicht mehr zu kennen. Warum fühlen sich Jugendliche und Eltern oft so fremd miteinander?

Oliver Dierssen: Weil sie sich fremd sind. Das Fremde ist Teil von jeder Beziehung. Es ist also auch normal, dass Kinder und Eltern sich auch mal fremd miteinander fühlen. Man ist sich ja sogar manchmal selbst fremd und hat Seiten an sich, die man nicht kennt oder lieber verdrängen möchte. Auch unsere kleineren Kinder sind uns oft fremder, als wir denken und haben Seiten, die wir gar nicht so gut kennen. Sie passen sich aber oft aus einem Zugehörigkeitsgefühl heraus an ihre Eltern an.

Oliver Dierssen

Dr. med. Oliver Dierssen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in der Nähe von Hannover. 

Und das tun Teenager dann nicht mehr?

In der Pubertät tritt der Wunsch der Kinder in den Hintergrund, den Eltern zu gefallen. Stattdessen wollen sich Jugendliche eher anderen Gruppen anpassen. Teenager haben außerdem oft regelrecht Lust darauf, den Eltern ihre anderen oder neuen Seiten zu zeigen. Dadurch wollen sie nicht unbedingt provozieren, sondern sie testen, ob diese Seiten angenommen werden und einen Platz finden in der Beziehung zu den Eltern. Das ist eigentlich eine große Chance. Schaffen die Eltern es, das Neue am Kind wertzuschätzen, kann die Beziehung sogar wachsen.

Eltern sind aber oft eher irritiert von diesen anderen, neuen Seiten des Kindes …

Die Pubertät ist eine Zeit der massiven Umwälzungen und das ist wertvoll. Aber natürlich kann es für Eltern auch anstrengend sein, wenn die herausfordernden Seiten, die die Mathelehrerin des Kindes vielleicht schon lange an ihm kennt, plötzlich auch am Frühstückstisch auftauchen. Solche Phasen der Veränderung haben für das Gegenüber manchmal sogar etwas Bedrohliches. Denn was in ihrem jugendlichen Kind Neues passiert, darauf haben Eltern oft keinen Zugriff oder sie finden sich darin nicht wieder. Sie fragen sich: Wird mein Kind uns weiterhin lieben, wenn es sich verändert?


Buchtipp: Oliver Dierssen: „Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist (und es deinem Kind mit dir genauso geht)", Mosaik Verlag, 352 Seiten, 22 Euro


Leiden Eltern auch richtig unter der Veränderung?

Manchmal kann das bei ihnen tiefgreifende Verlustängste und seelische Schmerzen auslösen oder alte Beziehungserfahrungen wachrütteln. Manche haben den Eindruck, ihr ganzes Leben entgleitet ihnen. In diesem Fall sollten sie sich Beratung holen. Es kann die Eltern-Kind-Beziehung enorm entlasten, wenn Mutter oder Vater verstehen: Was sie fühlen, wurde zwar durch ihr Kind ausgelöst, das vielleicht unverschämt oder verschlossen ist, aber hinter der heftigen Reaktion steckt etwas, das in ihnen selbst liegt. Dann ist es auch viel leichter, auseinanderzuhalten, wann sie erzieherisch reagieren müssen und wann sie sich zurücklehnen können.

Von wegen Erziehung – wie können klassische Konflikte mit jugendlichen Kindern vermieden werden?

Viele Auseinandersetzungen sind Regelkonflikte – es geht darum, pünktlich zu Hause zu sein, das Handy wegzulegen, im Haushalt zu helfen. Und Eltern glauben, sie müssten strafend eingreifen und die Kontrolle ausüben. Daraus ergeben sich oft massive Machtkämpfe. Besser wäre der bedürfnisorientierte Ansatz, also zu schauen, wer in der Familie was braucht. Die Mutter braucht vielleicht Entlastung und will, dass das Kind nachmittags den Geschirrspüler ausräumt, das Kind aber braucht nach der Schule Erholung. Legt man alle Bedürfnisse auf den Tisch und fragt, wer was übernehmen kann, verstehen das Jugendliche oft besser und kooperieren eher. Es geht hier um Verantwortung und Augenhöhe. Man könnte zum Beispiel beschließen, dass nachmittags alle erst einmal Pause machen, aber später am Tag gemeinsam eine halbe Stunde mit anpacken. Es darf aber auch Ausnahmen geben, denn auch Bedürfnisse sind nicht immer gleich. Dann lässt man den Haushalt liegen und macht einen Film an.

Und doch geht es ja nicht immer so harmonisch zu …

Natürlich müssen sich Eltern nicht alles gefallen lassen, sie dürfen auch Grenzen und Regeln einfordern. Wenn das aber mal nicht klappt, können sie einigermaßen gelassen bleiben und sich auch sagen: Es liegt nicht an uns, bei den anderen klappt es auch oft nicht. Und schweigt ein Teenie die Eltern an, ist das kein schlimmes Zeichen, dass die Beziehung scheitert, sondern das Kind eben in einer dem Alter angemessenen Phase ist. Viele Eltern fragen sich: Was hab ich denn schon wieder falsch gemacht, dass es mit meinem Kind nicht mehr klappt? Dabei machen die meisten sehr viel mehr richtig als sie glauben.

Ab wann sollten sie sich aber doch Sorgen machen und Hilfe suchen?

Wenn schwere Vertrauensverluste, Gewalt, massive Beleidigungen oder Drogen mit im Spiel sind, dann sollten Eltern sich unter Umständen externe Beratung und Unterstützung holen. In solchen Fällen geht es darum, für Sicherheit zu sorgen.

Was passiert eigentlich, wenn Eltern ihr Kind nicht so annehmen können, wie es ist?

Eigentlich sollte ein Kind die Erfahrung machen, dass seine Gefühle ohne Rechtfertigung da sein dürfen und nicht weg reguliert werden müssen. Dass es so sein darf, wie es möchte und auch fremde Eigenschaften den Eltern zeigen kann. Kritisieren Eltern ihr Kind ständig dafür, was es fühlt, wie es ist, wie es redet oder wofür es sich interessiert, kann es vielleicht diese Seiten gar nicht erst entwickeln. Manche Kinder passen sich dann übermäßig an und verleugnen ihre Bedürfnisse. Ihre Entwicklung steht still. Und so etwas führt oft zu seelischen Krisen und psychischen Erkrankungen. Im anderen Extrem begreifen Kinder schon früh, dass sie den Eltern nie genug sein können. Sie ziehen ihr Selbstbewusstsein alleine aus sich selbst, nabeln sich ab oder rutschen relativ früh in die Rebellion.

Ziehen solche Kinder auch früh von Zuhause aus?

Man kann auch innerhalb des gleichen Haushalts ausziehen: Das passiert etwa, wenn ein Kind sich im Zimmer verkriecht und bis nachts um vier am PC spielt, nicht mehr die Wahrheit sagt oder sich respektlos verhält – oft weil es auch so behandelt wird.

Wenn es gerade richtig schlecht läuft zwischen Eltern und Kindern – wie könnte ein erster Schritt aufeinander zu aussehen?

Zunächst sollten Eltern akzeptieren, dass die Situation verfahren ist und das nicht tabuisieren, sondern offen in der Familie ansprechen. Das bedeutet, dem Fremden auch einen Platz einzuräumen. Es darf da sein. Und man signalisiert damit: Auch wenn wir unterschiedlich sind und gerade nicht alles unter einen Hut kriegen, bleiben wir trotzdem eine Familie. Das kann eine große Entlastung sein. Danach kann man darüber sprechen, was jeder eigentlich so braucht in der Familie. Es geht auch darum, die Bedürfnisse des anderen anzuhören und zu achten.

Gibt es auch ein „zu spät“, weil der Graben bereits zu groß ist?

Es gibt sehr oft einen Weg zurück. Wir erleben, dass schon mit wenigen Beratungsstunden eine ganze Menge möglich ist. Wenn es aber um traumatische Erfahrungen geht oder emotionale, sexuelle oder körperliche Gewalt Teil der Familienkultur ist, dann ist ein Weg zurück schwierig