AboAbonnieren

„Wir müssen noch Mathe machen“Wie Eltern zu Hilfslehrern werden und dabei verzweifeln

Lesezeit 8 Minuten
Neuer Inhalt

Heute ist es fast selbstverständlich, dass Eltern ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen. 

Köln – Anke Willers ist mit dem Thema fast durch. Die eine Tochter hat nach 13 Jahren Schule Abitur gemacht, die andere besucht die 10. Klasse einer Realschule. Während der gesamten Schulzeit hat sich Anke Willers wie eine Hilfslehrkraft gefühlt und nun ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben. Wir haben mit ihr über den Schul-Wahnsinn gesprochen.

Neuer Inhalt

Anke Willers hat zwei Töchter, mit denen sie oft Hausaufgaben machen musste. 

Frau Willers, wie kann es sein, dass man mit Kindern auf der weiterführenden Schule nachmittags bei der Hausaufgabenbetreuung regelmäßig in den Mini-Burnout gerät?

Anke Willers: Da sind Sie nicht allein. Ich habe auch ständig mit meinen Kindern gelernt, viele Jahre lang. Ich sage immer: Ich bin dreimal eingeschult worden – einmal selbst als Kind, und dann bin ich noch zweimal mit meinen Töchtern zur Schule gegangen. Und das war wahnsinnig anstrengend.

Das Ding ist doch: Wir haben zu unseren Kindern eine nahe, emotionale Beziehung und das passt nicht zu Mathe und Englisch. Wenn das Kind es nicht kapiert, macht uns das wütend oder ungeduldig. Wir sind vielleicht sogar gekränkt und denken: Das ist doch mein Kind, das kann doch nicht sein, dass das so auf der Leitung steht. So etwas spürt das Kind natürlich. Und die Angst, den Eltern nicht genügen zu können, blockiert dann zusätzlich. In der Lernsituation ist es für Kinder und Eltern wahnsinnig schwer, diese Gefühle zu unterdrücken. Das macht die Sache so anstrengend. Und eben auch uneffektiv. Und ganz abgesehen davon, hat man als Mutter ja meistens genauso wenig Lust auf die Potenzgesetze wie die Kinder.

Wann ist das denn passiert, dass wir als Eltern zu HilfslehrerInnen wurden, liegt es an uns? An zu wenig selbstständigen Kindern? Am Schulsystem?

Willers: Auch schon in der Generation unserer Eltern gab es natürlich Mütter und Väter, die mit ihren Kindern gelernt haben. Insgesamt wurde das aber nicht so erwartet. Mir zum Beispiel haben meine Eltern nicht geholfen. Aus meiner Grundschulklasse ging nur eine Handvoll Kinder aufs Gymnasium. Und die anderen Schularten waren auch okay.

Heute haben viele Eltern Abitur, und klar ist damit auch die Erwartungshaltung gestiegen und Schularten jenseits des Gymnasiums wurden entwertet. Der Pisa-Schock hat das Ganze noch befördert. Dazu kommt eine Schulkultur, in der inzwischen einfach davon ausgegangen wird, dass wir Eltern uns kümmern. Immer mehr Schulstoff in weniger Jahren und zu wenig Lehrer – da werden Eltern zum verlängerten Arm der Schule. Machen wir nicht mit, riskieren wir, dass unser Kind ins Hintertreffen gerät.

Bei uns in der Gegend können sich Handwerker vor Aufträgen nicht retten, während ein promovierter Sozialwissenschaftler auch mal länger auf die richtige Stelle wartet. Wieso ist der Druck auf die Kinder dann heute so hoch, dass sie alle aufs Gymnasium sollen?

Willers: In meinem Buch habe ich den Soziologieprofessor Heinz Bude zitiert. Der erklärt die Bildungspanik der heutigen Eltern sehr schön mit einer Abgrenzungsbewegung der Mittelschicht. Er sagt, dass viele von uns Müttern und Vätern einiges auf sich nehmen mussten, um dahin zu kommen, wo sie heute sind.

Sie sind vielleicht Abteilungsleiter oder Webdesigner oder Ingenieur – und haben eben keine Höfe, Handwerksbetriebe oder Unternehmen zu vererben, sondern Bildung. Bildung hat heute einen unheimlich hohen Wert, wenn man sich fragt: Was will ich meinem Kind mitgeben? Und Bude sagt, in einer Gesellschaft, die immer weiter auseinanderdriftet, ist das besonders wichtig.

Man könnte es auch wie die Macher der Studie „Eltern-Lehrer-Schulerfolg“ zusammenfassen: Früher gab es eine Bildungschance, heute gibt es eine Bildungspflicht. Aber vielleicht ist das mit dem Abitur-Wahn auch ganz besonders ein Großstadtphänomen.

Inzwischen gibt es ja sogar Bücher, in denen Eltern der Schulstoff erklärt wird – damit sie den dann ihren Kindern beibringen können. Ich würde jetzt mal behaupten, dass solche Bücher vor allem von Müttern gekauft werden.

Willers: Ja, wir Mütter sind super darin, uns jeden Schuh anzuziehen. Und immer ein schlechtes Gewissen zu haben. Wir kümmern uns mehr um die Schulbelange – und werden von den Lehrern häufiger angesprochen als Väter, wenn’s irgendwo hakt.

Die Folge: Um den Kindern zu helfen, reduzieren viele Mütter ihre Jobs, arbeiten über lange Jahre Teilzeit. Letztendlich trägt die Schulkultur so dazu bei, dass wir unsere eigenen beruflichen Ziele nicht so richtig verfolgen können – und sie zementiert traditionelle Rollenbilder.

In der Untersuchung „Eltern-Lehrer-Schulerfolg“ spitzen es die Befragten sogar noch weiter zu, sie sagen nämlich: Ausgerechnet das Bildungssystem, das seit den 70er- und 80er- Jahren erstmals auch viele Mädchen gut ausgebildet hat, verhindert 20, 30 Jahre später, dass sie aus ihren Qualifikationen wirklich was machen können – denn nun sind viele von ihnen Mütter und coachen als Hilfslehrerinnen ihre Kinder.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ihre Töchter waren keine „Teilleistungsversagerinnen“, ihnen fiel die Schule „einfach nur nicht so leicht“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Wie äußerte sich das?

Willers: Sie mussten sich unheimlich anstrengen, viel üben – und hatten trotzdem nur mäßige Ergebnisse auf der Realschule. Nichts ging von allein. Natürlich haben wir auch ein paar der unvermeidlichen Tests gemacht: auf Dyskalkulie, ADHS, solche Sachen. Dabei kam aber nie etwas Greifbares heraus. Unsere ältere Tochter war vor allem in der Grundschule sehr ängstlich – Angst macht eine Matschbirne, klar.

Das wurde dann besser, als sie für ein paar Jahre auf die Montessori-Schule ging und es dort kaum Noten gab. Die Kleine hat ein Konzentrationsproblem. Das gibt es auch ohne ADHS-Diagnose. Aber wer sich schlecht konzentrieren, sich die Dinge nicht gut merken kann, versagt oft vor allem in schriftlichen Prüfungen.

Sie schreiben vom „Kampf“ um Noten, von wiederkehrender Niedergeschlagenheit, die sich wie ein dunkles Tuch über die Familie legte.

Willers: Es gab ganz oft diese Situationen, wenn die Kinder aus der Schule kamen, dann habe ich an den Schritten gehört, wie die Stimmung war. Ein schnelles Klackklack auf der Treppe hieß: good vibes, keine Katastrophen in der Schule. Ein schleppender Schritt war ein schlechtes Omen. Oft wusste ich dann nicht, wie ich das auffangen sollte.

Vielleicht hatten wir ein ganzes Wochenende gelernt und dann kam doch eine Vier oder Fünf, das Kind war enttäuscht, fühlte sich als Versager. Ich spürte förmlich, wie das Ganze den Kindern die Energie raubte und die Lebendigkeit. Das hält man als Mutter schwer aus. Und ich habe es längst nicht immer geschafft, sie dann wieder aufzubauen und die Stimmung zu retten – oder sie gar zu motivieren für die nächste Prüfung.

Ich war ja auch enttäuscht, ratlos, genervt oder einfach nur alltagsgestresst. Oft habe ich dann die Mütter beneidet, die Selbstläuferkinder hatten. Ich wäre auch gern so souverän gewesen und hätte gesagt: „Schule, ach Schule, das machen die allein. Ich mach nicht mit beim Förderzirkus.“ Aber meine Realität war anders – kein schönes Gefühl.

Was genau hat dieser Druck mit Ihrer Familie gemacht?

Willers: Es gab oft Streit beim Lernen und Geschrei. Man gefährdet den Familienfrieden, vermasselt sich das Verhältnis zu seinen Kindern, schüttet die Liebe zu. Ich hab mir natürlich auch Sorgen gemacht: Was macht dieser Schulfrust mit meinen Mädchen, mit ihrer Zuversicht ins Leben, ihrem Selbstwertgefühl, ihren Zukunftschancen? Dann habe ich mich auch mit meinem Mann gestritten. Irgendwann hat sich alles nur noch um Schule gedreht. Das Schöne am Familienleben, dieses tiefe Muttergefühl: Ich hab zwei wunderbare Kinder, denen will ich beibringen, wie das Leben geht, ihnen die Welt zeigen – einfach so, ohne Prüfungen im Nacken und ohne diesen defizitären Blick, das kam zu kurz.

Wie finden wir als Eltern denn den richtigen Mittelweg zwischen Helfen und Machenlassen?

Willers: Das ist natürlich bei jedem Kind anders. In der Grundschule können viele Kinder das nicht alleine. Da ist es, glaube ich, wichtig, dass man ihnen hilft, aber nicht zu viel abnimmt, dass man nicht auf sie einredet, sondern eher umgekehrt, sich von ihnen den Stoff erklären lässt – und ansonsten auch schulfreie Zonen schafft, in denen man andere, schöne Sachen zusammen macht.

In der Mittelstufe geht es dann viel darum, dem Kind zu vertrauen. Wenn man sich als Hilfslehrer zurückziehen will, muss man vielleicht aushalten, dass es für eine Weile noch weiter bergab geht mit den Noten. Schwere Übung! Ich hatte damals diesen inneren Ausweg, dass ich dachte: Wenn alle Stricke reißen, machen sie eben das Jahr noch mal. Auch das hätte ich irgendwann nicht mehr so schlimm gefunden.

Haben Sie ein Mut machendes Wort für all jene, die noch mittendrin stecken im Kinder-Schul-Wahnsinn?

Willers: Zuallererst: Wir Eltern sollten aufhören, uns gegenseitig kirre zu machen mit dem höher, schneller, weiter und immer noch ein bisschen elitärer. Damit drehen wir mit an der Spirale, unter der wir alle leiden.

Eine super Therapie gegen Schulfrust und Tunnelblick sind auch Klassentreffen. Wenn man sich da anguckt, was aus den Leuten geworden ist, dann sind die, die jetzt erfolgreich sind im Leben, im Job, nicht unbedingt die, die früher die super Noten hatten, oder?

Am allermeisten aber hat mir der Satz des Soziologen Bude geholfen. Er sagt: „Die Demografie rettet alle.“ Und dahinter steckt eine Rechenaufgabe, die sehr viel Mut macht: In den nächsten Jahren gehen 1,3 Millionen Babyboomer in Rente, gleichzeitig rücken aber nur halb so viele Kinder nach.

Was das für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, kann man sich ausrechnen: Sie sind gut, auch wenn man kein Abitur hat. Oder es erst später nachmacht. Denn auch dafür gibt es heute sehr viele Wege.

Das Interview erschien zuerst auf www.stadtlandmama.de